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  • Kultur
  • Lesesommer am ehemaligen Wachturm in der Reinhardtstraße

Auf Klappstühlen zwischen Schrott

  • Lesedauer: 3 Min.

So sehr man sich auch beeilt hat, die Mauer abzureißen und das Wundmal der Teilung aus dem Stadtbild zu verdrängen - gerade an den Nahtstellen der wiedervereinigten Stadthälften, auf den ungestalten Flächen des ehemaligen Todesstreifens sieht man, daß der Reißverschluß klemmt. So liegt die östliche Seite des Spreebogens (gegenüber prunkt der Reichstag) in einem Zustand skurriler Ödnis. Skurril, weil zwischen vereinzelten Müllhaufen auf der Brachfläche auch altes Militärgerät steht, Schrott-Panzer und sogar Kampfflugzeuge.

Ein Ambiente, das eines morbiden Charmes nicht entbehrt. Hier steht einer der letzten Wachtürme, der im Übereifer der Nach-Wende nicht abgerissen wurde. Sein Zustand ist freilich desolat: die Tür ist herausgebrochen, bei Regen tropft es durch, innen stehen Pfützen, es stinkt nach Urin. Das Relikt als Mal der Erinnerung zu erhalten und zu einem Ort der Begegnung der Kulturen auszubauen, dafür setzen sich die „Türmerinnen“, der ausschließlich von Frauen getragene „Verein für kulturelle Veranstaltungen Am Turm“ ein. Die Frage ist, ob sich Berlins Stadt- und Deutschlands künftige Regierungsmitte von allen Spuren der Vergangenheit bereinigt zeigen werden, oder ob man Orte gelebter Differenz erhält.

Für die Idee, Vergangenheit nicht einfach in Museen wegzusperren und damit zu neutralisieren, für die Idee der Erhaltung des Turms also sprach sich der Kulturausschuß des Berliner Abgeordnetenhauses aus. Und der Kultursenator entsprach dem finanziellen Unterstützungsbegehren der „Türmerinnen“ immerhin zu zwanzig Prozent. Das ist zwar zuwenig, um vernünftig arbeiten und vor allem den Turm in-

standsetzen zu können, aber auch zuviel, um die Flinte ins Korn zu werfen. Es ist also das Schicksal vieler Berliner künstlerischer Projekte.

„Wer sich nicht erinnert, ist gezwungen zu wiederholen“ - der Satz könnte als Antriebszentrum der Aktivitäten der „Türmerinnen“ gelten und war das Motto des ersten Lesesommers am Turm vor einem Jahr. Auch in diesem Sommer wird gelesen, umsonst und draußen, wenn es nicht gerade einmal gewittert oder dauerregnet. Der Turm bietet, wie beschrieben, keine Rückzugsmöglichkeiten. Um die Atmosphäre bei trockenem Wetter gastlicher zu gestalten, werden für jede Lesung Klappstühle herantransportiert.

Zum Thema des Lesesommers '92 - „Macht Euch die Erde Untertan (1. Moses, 28)“ - konnten immerhin 34 Autorinnen aus Berlin und dem Land Brandenburg eingeladen werden. Es handelt sich gegenüber diesem von patriarchalischen Gelüsten durchdrungenen, leicht ironisch gewähltem Motto nicht um die programmatische Ausstellung weiblichen Fühlens, weiblicher Wirklichkeitsverarbeitung, weiblicher Produktionsweise - auch wenn ausschließlich Frauen lesen. Vielmehr geht es darum, wie das Aufwachsen in verschiedenen, sich jeweils verabsolutierenden Ideologie-Systemen literarisch geäußert wird. Natürlich können literarische Verarbeitungen von Historie und eigener Biographie keine endgültigen Antworten liefern. Sie können höchstens Fragen stellen, und mittels der Benennung der Differenz Anknüpfungspunkte suchen. RENE MELZER

Lesesommer '9Z; Am Turm, Spreebogen, Reinhardtstr., Mitte. Bis18.9. Fr-So.

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