Worte-Zählen

  • Alexander U. Martens
  • Lesedauer: 2 Min.
Der 21. Juni ist, jedenfalls seit der Einführung des gregorianischen Kalenders, der längste Tag des Jahres. Inzwischen wurde er auch noch zum Tag der Europäischen Musik sowie zum Tag des Schlafes. Und in diesem Jahr ist er also auch noch der »Harry-Potter-Tag«. Denn an diesem Samstag, exakt ab 00.01 Uhr britischer Sommerzeit, darf - ja, wirklich: darf, weil sich das Verlagshaus Bloomsbury gegen eventuelle Unterschreitungen dieses Termins durch drakonisch bewährte Knebelverträge mit seinen Kunden abgesichert hat - die an die 200 Millionen zahlende Fan-Gemeinde endlich lesen, um was es im fünften Band von Joanne K. Rowlings anscheinend unendlicher Geschichte des Zauberlehrlings Harry Potter geht. Das gilt freilich nur für den des Englischen mächtigen, also weit überwiegenden, Teil der Leserschaft, aber immerhin sind nahezu eine halbe Million Exemplare der Originalversion des vierten Bandes auch hier zu Lande verkauft worden. Und nichts spricht dagegen, dass es vom fünften Band weniger sein werden, bis wir dann für die deutsche Ausgabe am 8. November endlich auch unseren nationalen hysterischen Harry-Potter-Tag haben werden. Das Geheimnis des phänomenalen, weltweiten Erfolges dieser in wenigen Jahren fast schon zum Klassiker der Jugendliteratur gewordenen Figur zu ergründen, daran hat sich schon eine Menge mehr oder weniger kluger Köpfe versucht, ohne bisher überzeugend fündig geworden zu sein. So viel allerdings ist wohl unbestritten: Es muss schon mehr sein als nur das Ergebnis eines genialen und perfekten Marketings. Das US-Massenblatt »US Today« suchte die Erklärung im Wörterzählen und fand heraus, dass die Potter-Geschichten zwar von Band zu Band wortreicher wurden, im Vergleich zu anderen ausgewählten (angelsächsischen) Kinderbuch-Klassikern hinter der Wortanzahl jedoch zurück bleiben. So zählt der morgen auf den Markt drängende fünfte Band mit 225000 Wörtern hinter den 324751 Wörtern im »Nicholas Nickelby« zurück. Aber das ist eher wohl ein Beitrag zur um sich greifenden Vermehrung nutzlosen Wissens. Vielleicht bedarf es irgendwelcher krampfhafter Tiefgründeleien überhaupt nicht? Vielleicht ist es ja ganz einfach: So, wie Goethes »Werther« oder - etwas bescheidener - Spyris »Heidi« einen bloß liegenden Nerv ihrer Zeit berührt haben, so trifft dieser »Harry Potter« auf die diffuse Stimmungslage einer Gesellschaft, deren oftmals uneingestandene Sehnsucht nach der so genannten heilen Welt in dem Maße virulent ist (und wohl auch bleibt), in dem der vielgerühmte »Fortschritt« Ängste weckt. Sollte das so sein, dann ist der Erfolg von Harry Potter eine kräftige Ohrfeige für unsere Gegenwart.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -