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  • Politik
  • Dr. GÜNTER MALEUDA, Volkskammerpräsident in der Wendezeit, Erstunterzeichner der Komitees für Gerechtigkeit:

Wir sind doch keine Kontra-, sondern eine Pro-Bewegung

  • Lesedauer: 7 Min.

Was hat Sie bewogen, sich für die Komitees für Gerechtigkeit zu engagieren? Sie hätten sich doch zurückziehen und sagen können: Ich habe das Meine getan. Jetzt bin ich nicht mehr gefragt, jetzt werde ich nicht mehr gebraucht. Warum also?

Es ist der Widerspruch zwischen den Grundrechten der Bundesbürger und dem täglichen Leben in den ostdeutschen Ländern. Im Grundgesetz heißt es: Niemand darf wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Heimat, seiner Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Im Leben aber vollzieht sich eine Ausgrenzung von Hunderttausenden. Das geht bis zu einer modernen Form der Berufsverbote. Dieser Widerspruch und die Tatsache, daß wir im Bereich der Politik, der Wirtschaft, der Kultur,, des Gesundheitswesens, auf allen Gebieten also, Prozesse erleben, die zu Lasten der Menschen gehen - da war es für mich zwingend, mich zu Wort zu melden.

Millionen Menschen in Ostdeutschland sind arbeitslos, Frauen sind ganz besonders betroffen. Wer trägt die Verantwortung dafür? Das kann man nicht mehr allein der Kommandowirtschaft anlasten. Die Menschen in Ostdeutschland haben Werte geschaffen. Wie selbstherrlich wird darüber hinweggegangen! Wissenschaft und Forschung werden abgewickelt, namhafte Wissenschaftler und Forscher mit Berufsverbot belegt oder in die Stasi-Ecke gedrängt. Das alles hat mit dem Grundgesetz nichts mehr zu tun, oder man muß das Grundgesetz ändern.

Ich sehe das auch in Zusammenhang mit meinen Funktionen, die ich während und nach der Wende hatte. Ich stand als Präsident der Volkskammer in der Wendezeit in Verantwortung und war Abgeordneter des ersten und letzten freigewählten Parlaments der DDR. Das, was wir für das einheitliche Deutschland auf den Weg gebracht haben, war auch gegenüber den

Wählern anders motiviert. Es besteht also bis zum heutigen Tag auch ein Widerspruch zwischen dem, was ich vertreten wollte und was sich im Leben vollzieht. Natürlich diskutiere ich die positiven Aspekte der deutschen Einheit nicht weg - zum Beispiel die Freizügigkeit für die Menschen. Wer ausreichend Geld hat, kann Weltreisen unternehmen, kann im Konsumbereich alle Bedürfnisse befriedigen. Das sind schon gravierende Unterschiede zur Mangelwirtschaft in der DDR.

Doch demgegenüber muß man feststellen, daß anstelle des immer wieder propagierten Aufschwungs Ost der Abstieg Ost das Dominierende ist. All das zusammengenommen war Hauptmotiv, sich zu Wort zu melden. Die Reaktionen der etablierten Parteien bestätigten, wie notwendig und richtig das war.

Diese Reaktionen sind aber oftmals von Haß und Zynismus geprägt.

Ebendiese Reaktion wirft meiner Meinung nach die Frage nach der Reform des alten bürgerlichen Parlamentarismus auf. Alle Veränderungen in Osteuropa wurden weniger von Parteien als von Bewegungen der Bürger in Gang gesetzt. Es ist eine erschreckende Arroganz der Politik, wenn heute führende Politiker die Wortmeldungen und Initiativen der Persönlichkeiten, die sich für die Bildung der Komitees für Gerechtigkeit ausgesprochen haben, negieren. Die Komitees sind doch eine dringend notwendige Hilfeleistung für die Politiker. Sie wiederum sollten durch ihre Mitarbeit Sachkunde einbringen und einholen und Bürgernähe suchen.

Was wollen Sie bewegen und bewirken?

Ich möchte mithelfen, die vorgezeichneten politischen Leitlinien, die sicher weiter auszuf ormulieren sind, transparent zu machen. Ich will mich nicht wieder in eine politische Funktion hineinbewegen. Da gibt es genügend Betätigungsfelder, um mitzuhelfen, daß Inhalt und Tempo des Einigungsprozesses sich in einer anderen Qualität vollziehen. Ich halte es nicht für richtig, wenn die von „oben“ nun nach

„unten gehen und die Arbeit organisieren. Komitees bilden sich auf Eigeninitiative von bewußten Menschen. Sicher wird sich das auch kontrovers vollziehen, und manch einer wird auch versuchen, die Inhalte zu zerreden. Damit muß man leben. Das ist auch Ausdruck unserer gegenwärtigen Entwicklung.

Sie würden auch unter die Leute gehen, um Ihre Beweggründe darzustellen?

Ja. Ich würde mir wünschen, daß man sich die Erfahrungen der Wendezeit zunutze macht, zum Beispiel den Runden Tisch, an dem die unterschiedlichsten Auffassungen und gesellschaftlichen Fragen debattiert, Gesetzesinitiativen, wie das Wahlgesetz, die Sozialcharta, auf den Weg gebracht wurden. Der Runde Tisch brachte viel Konstruktivität in die Politik ein. Es ist bedauerlich, daß in den Reihen der Bürgerbewegung von damals sich heute Kräfte finden, die die neuen politischen Gruppierungen ausgrenzen.

Ein weiterer Aspekt: Die Komitees für Gerechtigkeit sind vor allem keine Kontra-Bewegung, sondern eine Pro-Bewegung. Hier engagieren sich nicht Menschen, die die alte DDR wiederhaben wollen, ihnen geht es um die bessere Ausgestaltung des Weges in die deutsche Einheit. Deshalb ist es demagogisch, die Komitees in die kommunistische Ecke zu drängen, sie mit dem Prädikat der absoluten PDS-Nähe zu belegen.

Sie haben über viele Jahre in der DDR die Agrarpolitik mitbestimmt. Welchen Weg sehen Sie heute für die Menschen auf dem Lande?

Es gibt meiner Meinung nach keine ausreichend befriedigenden Antworten auf die offenen Fragen. Ich unterstütze die kritischen Wertungen der DDR-Landwirtschaft, vor allem mit Blick auf den Gigantismus, den Bau von industriemä-ßigen Großanlagen, die Unterschätzung des Umweltschutzes. Doch ich möchte betonen: Die 70er und 80er Jahre gehörten in der DDR für die Menschen auf dem Lande zu den besten Jahren. Weil

sich in dieser Zeit, die gesellschaftliche Stellung der Menschen in der Landwirtschaft, vor allem der Frauen, zum Positiven verändert hat.

Wie oft habe ich in meiner Funktion als Volkskammerpräsident von Europaparlamentariern und Bundestagsabgeordneten gehört, daß wir uns unsere Agrarstrukturen nicht zerstören lassen, sondern sie mit einem neuen Inhalt ausgestalten sollen. Genau das ist nicht geschehen. Es folgte der Sturz in die Marktwirtschaft, eben nicht die soziale Marktwirtschaft, der den Menschen auf dem Lande schier unüberwindliche soziale Probleme brachte. Bäuerinnen und Bauern sind an einem Wochenende im Juni/Juli 1990 zu ambulanten Straßenhändlern geworden. Die oft angeregte Orientierung, eine Anpassungszeit zu ermöglichen, wurde überhört. Die 40jährige Entwicklung der BRD-Landwirtschaft müssen die ostdeutschen Bauern von heute auf morgen bewältigen. Das Bemühen einiger Politiker verhindert nicht den Gesamteindruck, daß gegenüber der Landwirtschaft Ignoranz, Inkompetenz und Bürokratismus vorherrschen. Meiner Auffassung nach ist diese kritische Lage nicht durch Eigeninitiative der Länder zu überwinden. Hier sind Bonn und Brüssel gefordert. Die Dürre hat die Probleme nur noch zugespitzt.

Jetzt müssen auch langfristige Pachtverträge auf den Tisch, um den Genossenschaften und den Neueinrichtern die Möglichkeit des Kalkulierens für die Zukunft zu geben. Eine dringliche Forderung an die Teuhand und die Bodenverwertungs-und -Verwaltungsgesellschaft. Das nächste ist die Entschuldung in der Landwirtschaft. Auch davon hängt das Weiterleben der Betriebe ab. Faßt man alles zusammen, so hat sich die soziale Stellung der Bäuerinnen und Bauern absolut verschlimmert. Betriebe stellen die Produktion ein, Jugendliche wandern ab, der Konsum auf dem Dorf wird geschlossen, die Post ist weg, womöglich macht auch der Kindergarten zu. Wahr-

lieh eine „blühende Landschaft“. Hier sind gesellschaftliche Konzepte gefragt und eben das Zusammengehen von Parlamenten und Bürgerbewegung.

Ist denn nun der bäuerliche Familienbetrieb das Nonplusultra?

Die Hauptvariante ging nicht auf, die Genossenschaften auf dem Lande zu liquidieren und den bäuerlichen Familienbetrieb zu installieren. Er wurde als das Lösungsmodell angepriesen, obwohl in Westdeutschland nach 1945 über eine Million Höfe die Scheunentore schließen mußten. Warum haben sich in Ostdeutschland erst 16 000 und nicht 100 000 dazu entschlossen, wieder allein zu wirtschaften? Die Bedingungen müssen geschaffen werden, daß Einzelbauern und gemeinschaftlich wirtschaftende Bauern gleichberechtigt nebeneinander wirken können. Jeder soll das tun, was er will, soll über sein Eigentum frei verfügen. Doch wiederum befinden sich Bauern in einer Zwangslage: Es bleibt ihnen oft nichts anderes übrig, als sich in das Abenteuer des eigenen Hofes zu stürzen, wenn die Genossenschaft in den Ruin getrieben wird. Sicher werden es einige Tausend Neueinrichter schaffen, die auf guten Böden arbeiten. Das kann aber nicht die Perspektive für die gesamte Landbevölkerung sein. Das alles berührt Grundfragen auf dem Weg in die deutsche Einheit.

Noch ist das so oft gepriesene Licht am Ende des Tunnels nicht sichtbar. Deshalb sind in einer breiten, parteiübergreifenden Zusammenarbeit Lösungen gefragt. Das Leben bestätigt: Die etablierten Parteien und der bürgerliche Parlamentarismus sind allein nicht in der Lage, sie zu finden. Damit wäre ich wieder bei meinem Ausgangspunkt: Der bürgerliche Parlamentarismus ist dringend reformbedürftig. Die Parteien haben viel zu viel mit sich, untereinander und gegeneinander zu tun. Da bleiben die Anliegen der Menschen auf der Strecke. Es muß Alternativen geben, die nach vom zeigen. Deshalb engagiere ich mich jetzt.

Gespräch: ROSIBLASCHKE

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