Auf dem Index und in aller Munde

George Orwell zum 100. Geburtstag

  • Jürgen Ronthaler
  • Lesedauer: ca. 2.5 Min.
Bekannt und umstritten war er auf beiden Seiten des eisernen Vorhangs, auch wenn dies eher seinen provokanten politischen Ansichten als seinen literarische Meriten geschuldet war. Und bis heute - immerhin mehr als 50 Jahre nach seinem Tode - ist Orwell eine stets präsente Persönlichkeit geblieben. Das zeigt sich nicht nur am starken wissenschaftlichen Interesse, sondern auch darin, dass Zitate aus seinem Werk - wie »Newspeak« oder »Big Brother« - zu idiomatischen Wendungen geworden sind. Dabei richtet sich das Interesse von Kritik und Leserschaft hier weit mehr als bei anderen Autoren auf die Verbindung von Leben und Werk, Wahrheit und Fiktion. Orwells Biografie ist erstaunlich genug. 1903 wurde er als Eric Arthur Blair in Motihari, Indien, in die (englische) »niedere obere Mittelklasse« geboren, war talentierter Schüler des berühmten Eton-Colleges, ging später als imperialer Polizist nach Burma, kehrte aber bald nach Europa zurück, weil er die (u.a. koloniale) Herrschaft des Menschen über den Menschen ablehnte. Er lebte als Tellerwäscher in Paris, als Obdachloser in London, arbeitete in einem Dorfladen, kämpfte im Spanischen Bürgerkrieg auf republikanischer Seite, wo er seine kommunistischen Ideale auf Grund stalinistisch-totalitärer Erfahrungen in antikommunistische Positionen wandelte. Aus dem linken intellektuellen London zog er sich auf eine Farm in Schottland zurück, schrieb seine beiden berühmtesten Bücher »Animal Farm« (1949, dt. »Farm der Tiere«) und »1984« (dt. 1949) und starb 1950 an Tuberkulose. Obwohl das Gesamtwerk mit den sehr lesbaren Briefen und journalistischen Arbeiten zwanzig Bände füllt und immerhin neun eigenständige, z.T. autobiografische Bücher enthält, ist er weltweit fast ausschließlich mit den beiden genannten Werken berühmt geworden. Das erste - eine in der Fabeltradition stehende Tiergeschichte - hinterfragt satirisch die Sinnhaftigkeit und Möglichkeit jedweden revolutionären Umsturzes. Da dies mit erkennbarem Verweis auf die russische Oktoberrevolution und ihre Exponenten geschieht, wurde es besonders im Kalten Krieg (übrigens nach dem Oxford English Dictionary eine Orwellsche Wortprägung) von beiden Seiten zu propagandistischen Zwecken missbraucht. Ein ähnliches Schicksal erlebte der zweite Text. Obwohl eine aus Erfahrungen des Faschismus, Stalinismus sowie totalitärer Tendenzen englischer Sozialisten gespeiste, erneut satirisch gestaltete Angst vor dem Untergang des (liberalen) Individuums im Zentrum steht, wurde die sehr dunkle Dystopie eher zur Anklage kommunistischer Systeme benutzt. Diese Einseitigkeit mag zwar Orwells Grundansichten zu dieser Zeit entsprochen haben, wird aber der Komplexität beider Werke kaum gerecht. Im Spätsozialismus unserer Gegenden wurde Orwell um 1984 aus der Totalverbannung geholt, als er nämlich aus offensichtlichen Gründen internationale Bestsellerlisten anführte. Freilich wurden er und seine Schriften auch hier vor allem politisch-propagandistisch benutzt, wenn auch in der Literaturwissenschaft eine differenziertere Sicht begann. Fest steht, dass - wiewohl die DDR-Führung Orwell immer auf dem Index ließ - dennoch fast jeder Orwell kannte. In Großbritannien und der englischsprachigen Welt ist Orwell allerdings auch (vielleicht sogar vorwiegend) wegen seiner sprachlich-journalistischen Leistungen berühmt geworden: Besonders seine brillanten Essays mit einer weiten Themenbreite werden ihm einen bleibenden Platz unter den großen englischen Schriftstellern sichern. Andererseits unterminieren kürzlich über die britische Presse bekannt gewordene Biografie-Details den Mythos: Offenbar hatte Orwell nach 1945 eine Liste mit 35 Namen früherer Weggefährten über eine Freundin an den britischen Geheimdienst gegeben, so dass er nun wohl als »IM« des Secret Service angesehen werden muss. Der widersprüchlichen Persönlichkeit Orwells wie seinen Texten mit Eindeutigkeiten beizukommen, ist also unmöglich. Wie die New York Review of Books einmal schrieb, werden jedoch dadurch sein Mythos und Einfluss ständig wachsen, Rechts und Links werden ihn für sich rek...

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