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Ein paar Kapitel Pressefreiheit

Fraktions-Pressesprecher Jürgen Reents an den ZDF-Intendanten Dieter Stolte, 9. 9. 92

  • Lesedauer: 4 Min.

Sehr geehrter Herr Prof. Stolte!

Wer sich gestern damit begnügt hat, sich über den ersten Tag der Haushaltsdebatte des Bundestages ausschließlich aus dem ZDF zu informieren, mußte den Eindruck haben, daß nur die CDU/CSU, SPD und FDP im Parlament vertreten sind.

1. Die vom ZDF übernommene Direktübertragung wurde gestern exakt um 15.54 Uhr ausgeblendet, nachdem der Abgeordnete Weng (FDP) als letzter Redner der drei größeren Fraktionen in der ersten Debattenrunde vom Redepult ging. Ihm folgten unmittelbar - nicht mehr in der Übertragung - die ersten Redner der PDS/LL, Dr. Dietmar Keller, und des Bündnis 90/Die Grünen, Werner Schulz. Natürlich ist diese Ausgrenzung der beiden Oppositionsgruppen aus der Direktübertragung in erster Linie der Redelistenregie des Ältestenrates des Bundestages anzulasten, denen bekannt war, daß die Direktübertragung ungefähr zu die-

sem Zeitpunkt enden würde. Aber das ZDF hat geholfen, diese Ausgrenzung zu komplettieren: Die Direktübertragung war exakt bis 15.58 Uhr geplant, wie mir in einem Telefongespräch mit der Sendeleitung in Mainz noch während der Übertragung bestätigt wurde. Nachdem durch die Redezeitanmeldungen der größeren Fraktionen klar war, daß der letzte Redner von CDU/CSU, SPD und FDP in der ersten Runde um 15.54 Uhr abschließen würde, entschied sich das ZDF aber, diesen Zeitpunkt zum Ausblenden zu wählen, weil es „nicht gut“ sei, direkt aus einer Rede heraus auszublenden. Dabei ist dies in der Vergangenheit bei solchen Direktübertragungen gar nicht einmal unüblich gewesen. Aber nicht einmal die entsprechend der ursprünglichen Programmplanung verbliebenen vier Minuten durften sein, um noch einige Ausführungen des PDS/LL-Abgeordneten Dr. Dietmar Keller zu übertragen.

2. In den zentralen „heute“-Nachrichten um 19 Uhr ka-

men ebenfalls ausschließlich Rednerinnen von CDU/CSU, SPD und FDP mit O-Ton in der Berichterstattung vor. Über die Beiträge von PDS/LL und Bündnis 90/Die Grünen gab es dagegen nicht einmal eine einzige nachrichtliche Information.

3. Im „heute-journal“ um 21.45 Uhr ein ähnliches Bild: Außer CDU/CSU, SPD und FDP gab es hier zwar auch einen Satz des Bündnis 90-Abgeordneten Werner Schulz im O-Ton, von der PDS/LL dagegen weder einen O-Ton noch eine nachrichtliche Information.

Eine solche Ausgrenzung ist kein Einzelfall. Wir haben eine ähnliche Kritik im letzten Jahr schon einmal bei den Berichterstattungen über die Bundestagsdebatten zur Ausländerfeindlichkeit (nach den Ausschreitungen in Hoyerswerda) und zum § 218 vorgetragen. Ich möchte einen Absatz aus unserer damaligen Kritik noch einmal in Erinnerung rufen:

Namentlich die öffentlichrechtlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten sind darin gehalten, eine faire und ausgewogene Berichterstattung anzubieten. Erfahrungen, daß oppositionelle Auffassungen keine oder kaum eine Chance zur öffentlichen Darstellung in den großen Medien erhalten, haben gerade diejenigen zur Genüge gemacht, die aus der Geschichte der DDR kommen. Diese Erfahrungen in der größer gewordenen Bundesrepublik auch nur im Ansatz zu wiederholen, muß den Widerspruch derjenigen hervorrufen, die im jetzigen Bundestag eine zahlenmäßig zwar kleine und mit minderen Rechten ausgestattete Opposition, aber gleichzeitig auch die im größten Umfang „ostdeutsche Opposition“ sind - womit nicht nur die PDS/LL, sondern gleichfalls das Bündnis 90/Die Grünen gemeint ist.

In Ihren damaligen Antwortschreiben haben Sie unsere Kritik mit Hinweisen darauf zurückgewiesen, daß die PDS/LL immerhin in der

Direktübertragung der Rassismus-Debatte zu Wort gekommen sei und daß das „heute-journal“ eine „andere Zielrichtung und Aufgabe als unsere Nachrichtensendungen“ habe und im Unterschied zu den „heute“-Nachrichten nicht „nach dem Grundsatz möglichst weitgehender Vollständigkeit der Dokumentation verfahren“ könne. Mit der Berichterstattung des gestrigen Tages ist das ZDF nun sogar über diese eigenen Hinweise hinweggegangen.

Ich möchte Sie deswegen erneut um eine Stellungnahme bitten - möglichst ohne Hinweis darauf, daß die Direktübertragung des zweiten Tages der Haushaltsdebatte heute von 9 bis 16 Uhr immerhin um 10.40 Uhr nicht für eine Viertelstunde unterbrochen wurde, als Dr. Gregor Gysi am Redepult stand.

Wir erlauben uns, unsere Kritik auch öffentlich zu machen.

Mit freundlichen Grüßen

Jürgen Reents

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