»Weiber mit großen Busen«
Heinrich Mann als Zeichner: Volker Sklerka präsentiert einen überraschenden Fund
Dass sich Heinrich Mann auch bildlich ausdrückte, weiß man nicht erst, seit die Eintragung des Bruders zugänglich ist. Schon 1975 (und noch einmal 1984) hat der Aufbau-Verlag ein schmales Bändchen herausgebracht, das unter dem Titel »Die ersten zwanzig Jahre« 35 autobiografische Blätter vorstellte. Sie waren Anfang der 40er Jahre entstanden und zeigten Figuren und Szenen aus Kindheit und Jugend. Damals schrieb Heinrich Mann gerade an seinem Lebensbericht »Ein Zeitalter wird besichtigt«, und offenbar hat er sich manches vergegenwärtigt, indem er Skizzen anfertigte. Die Blätter stammten aus dem Nachlass, den die Akademie der Künste aufbewahrt, und sie galten als Sensation. Auch die Kenner waren verblüfft. Zwar wusste man, dass der Autor auch gezeichnet hat, aber Resultate hatte bis dahin niemand gesehen.
Und nun die nächste Überraschung: Ein großer, schwerer Band aus dem Göttinger Steidl-Verlag, genannt »Liebschaften und Greuelmärchen«, präsentiert, parallel zu einer Ausstellung im Lübecker Buddenbrook-Haus, einen beachtlichen Stapel weiterer Zeichnungen, die 1995 durch einen puren Zufall ans Licht kamen. Zu verdanken ist der Fund dem Journalisten und Feuchtwanger-Biografen Volker Skierka, der im Tresorraum der »Lion Feuchtwanger Memorial Library« in Los Angeles auf ein paar Mappen stieß, in denen, nach Zyklen sortiert, rund 400 Bleistiftzeichnungen Heinrich Manns lagen. Niemand hatte bisher nach den Materialien geforscht. Wie denn auch: Wer wusste schon, dass man im Feuchtwanger-Nachlass auf Arbeiten des Freundes stoßen würde? Aber das Rätsel war schnell gelöst. Heinrich Mann hatte die Blätter kurz vor seinem Tod Marta Feuchtwanger geschenkt, und mit den unveröffentlichten Dokumenten, die sie dem Freund (und späteren Nachlasshüter) Harald von Hofe vermacht hatte, waren sie schließlich der Library übergeben worden.
Das Buch, das den Fund nun publik macht und rund 150 Blätter wiedergibt, zeigt den Schriftsteller auf einem Feld, auf dem er sich schon in seinen frühen Jahren tummelte, das er freilich nicht halb so gut beherrschte wie die Gesetze des Romans. Er war nicht der Zeichner, der den Bleistift elegant und souverän führte und es zu auffallender Kunstfertigkeit brachte. Nein, eine künstlerische Doppelbegabung, sagt auch Hans Wißkirchen in einem der drei Begleittexte des Bandes, war er nicht. Er kritzelte. Er kümmerte sich nicht um Perspektive und Proportionen, er legte einfach los. Er entwarf Varieté-, Liebes- und Bordellszenen, zeichnete Gier und Gewalt, Gattinnen und Furien, er bannte die Halbwelt aufs Papier, füllige Damen, bewundernde Männer, zahlungskräftige Kunden. Die Figuren eher grob und plump. Die Arme hängen an Körpern, die manchmal zu kurz und dann wieder zu lang geraten, und die Gesichter bleiben ohne individuellen Ausdruck. Aber was macht das schon? Er zeichnete ja nicht, weil er meinte, ein Zeichner zu sein, er hatte auch nicht vor, zu »gefallen« und der Nachwelt womöglich ein Buch zu schenken, wie es jetzt vorliegt, eine Galerie üppiger Frauen und zweifelhafter Typen. Hier ging's allein um die Selbstverständigung, um eine Möglichkeit, politische, literarische, erotische und sexuelle Eindrücke zu verarbeiten, die Bilder in seinem Kopf auf einfache, direkte Art los zu werden und festzuhalten. Auffällig ist, dass viele Blätter mit dem Spätwerk korrespondieren, am deutlichsten sichtbar im »Fédéric«-Zyklus, der sich auf den geplanten Roman über Friedrich den Großen bezieht.
Der Zeichner ist vom Erzähler nicht zu trennen. Heinrich Mann ist der Autor, der immer wieder ätzende Bilder der bürgerlichen Gesellschaft lieferte, der starke, dominierende Frauen erfand, denen er gern hilflose, schwache, unterwürfige Männer zur Seite stellte. Man entdeckt den Romancier in seinen Bildern wieder. Er liebte solche Frauen, er liebte den kräftigen erotischen Reiz. Ihn, den erfolgreichen und einflussreichen Schriftsteller, den Citoyen, der ein hellsichtiger politischer Kopf war, zog es in die Künstlerkneipen, die Bars und Varietés, dorthin, wo das Abenteuer lockte, die erotische Faszination. Er hat die Verlockungen mit Hingabe ausgedrückt, wieder und wieder. Alma Mahler-Werfel erzählt in ihren Erinnerungen, wie Golo, der Neffe, ihn in der Schiffskabine besuchte, als sie 1940 endlich, nach ihrer Flucht durch Spanien und Portugal, auf dem Weg in die USA waren. Heinrich, schrieb sie, ging es nicht gut. Er lag im Bett und zeichnete »Weiber mit großen Busen«.
Thomas Mann hatte für die Obsessionen des Bruders nur ein indigniertes Kopfschütteln. Die Frauen, die Heinrich favorisierte, waren in seinen Augen vollkommen unakzeptabel, eine gesellschaftliche Katastrophe, und als er 1939 gar die Bardame Nelly Kröger heiratete, die »Seele der Halbwelt«, war die Bestürzung grenzenlos. Sie wich bald der Verachtung. Heinrich indessen liebte Nelly, die ihn, den fast 70-Jährigen, über die Pyrenäen schleppte und die nun, in Amerika, tapfer für ihn sorgte, und er hielt zu ihr trotz ihrer Alkoholsucht, trotz der Suizidversuche, und als es ihr doch gelungen war, sich das Leben zu nehmen, wurde es endgültig dunkel in seinem Dasein. Er lebte in einer Parterrewohnung in Los Angeles, aber er lebte, wie er schrieb, »nur noch halb«. Er war einsam und mittellos, angewiesen auf die Unterstützung des Bruders, ein Autor, von dem das große Amerika nichts wissen wollte. Er hörte Musik, er las und schrieb, er zeichnete. All die Blätter, die man in dem Buch (und in der Ausstellung) betrachten kann, sind in diesen stillen, traurigen, deprimierenden Jahren entstanden.
Die »nackten, dicken Weiber«, die Katia Mann gesehen hat, sind nicht dabei. Die Zeichnungen hat Erika offenbar abgeholt, und vermutlich sind sie dann vernichtet worden. Aber es fehlen auch all die übrigen Darstellungen, die so deftig, so drastisch ausfielen, dass die Enkel Jindrich und Ludvik Mann davor zurückschreckten, sie der Öffentlichkeit vorzuführen. Immerhin: Der Forschung werden sie in Los Angeles Zugänglich sein.
Volker Skierka (Hg.): Liebschaften und Greuelmärchen. Die unbekannten Zeichnungen von Heinrich Mann. Steidl Verlag. 384 Seiten, gebunden, 98 DM.
Ausstellung im Lübecker Buddenbrook-Haus bis 28. Oktober 2001.
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