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  • Otto Rühle - ein linkes Leben aus Eigensinn (IV) / Reflexionen zum 50. Todestag eines ungewöhnlichen Mannes

Kein Poem für Leo Trotzki

  • Lesedauer: 4 Min.

Und Otto hat ihn zur Rede gestellt“, berichtet Alice Rühle-Gerstel in ihren Tagebuchaufzeichnungen aus Mexiko von einem Disput zwischen Otto Rühle und Leo Trotzki, „über die Verdächtigungen all jener, die eine abweichende Meinung haben, und dann sind sie auf ihre prinzipiellen politischen Gegensätze gekommen - einmal mußte Otto doch losgehen! und Otto hat seinen antibolschewistischen, Trotzki seinen bolschewistischen Standpunkt verteidigt. Beide sind rot und erregt geworden und schließlich hat Otto geschrien: ,Sie, mein lieber Trotzki, sind selber der allerärgste Stalinist...!“

Die Erinnerungen Alice Rühle-Gerstels, erst 1979 in Frankfurt am Main von ihrem Nachlaßverwalter Stephen S. Kalmar veröffentlicht, tragen den Titel „Kein Gedicht für Trotzki. Tagebuchaufzeichnungen aus Mexico“. Sie sind

deshalb interessant, weil Otto Rühle in der Sowjetunion und in der DDR als „Trotzkist“ abgestempelt worden war. „Trotzkistische Literatur“ aber galt als besonders verwerflich. Sie wurde im von Moskau geführten „sozialistischen Lager“ nicht nur nicht gedruckt, sondern auch aus den Bibliotheken entfernt - im Osten Deutschlands zwischen 1945 und 1947 auf ausdrücklichen Befehl der sowjetischen Besatzungsbehörden.

Tatsächlich ist Otto Rühle nie ein Trotzkist im eigentlichen Sinne gewesen. Zwar hat er in der berühmten Dewey-Kommission mitgearbeitet, die im April 1937 in Mexico-City eine Art Gegenprozeß gegen die berüchtigten Moskauer Prozesse veranstaltete und Trotzki Gelegenheit gab, sich gegen Stalins Verleumdungen zu wehren. Auch hatte sich,

als Trotzki Anfang 1937 in seinem mexikanischen Exil eintraf, eine Art Freundschaft zwischen den Rühles und Trotzki ergeben, eine Solidargemeinschaft des von Stalin vertriebenen russischen Revolutionärs mit den von Hitler verjagten deutschen Linken. Doch die politischen Ansichten waren grundverschieden. Und Rühle hütete sich, Trotzkis Vierter Internationale beizutreten.

Die Rühles waren 1933 von Dresden nach Prag geflüchtet, bevor die SA kam, um ihr kleines Haus zu durchsuchen und die Bibliothek zu vernichten. In Prag arbeitete Alice beim „Prager Volksblatt“ und schrieb einen Roman über eine Frau auf der Flucht („Der Umbruch oder Hanna und die Freiheit“, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/Main 1985). 1935 folgten die Rühles

einem Ruf der mexikanischen Regierung, als Berater an der dortigen Schulreform mitzuwirken. Ein Auskommen im Exil schien gesichert. Doch die Hoffnung trog. Bald wurden die Rühles wieder ausgegrenzt. Alice in ihrem Tagebuch: Das Unterrichtsministerium ist „die Hochburg der mexikanischen Stalinisten“.

Es ist schade, daß Alices Tagebuch mitten in Ereignissen des Jahres 1939 abbricht. So erfahren wir nicht, wie die Rühles die Attentate auf Trotzki und seine Ermordung am 20. August 1940 in Mexiko-City durch einen NKWD-Agenten erlebten. Vielleicht sträubte sich die Feder vor soviel gebündelter Niedertracht. Der sich um Trotzki ausbreitende Sumpf von Spitzeln, Lockspitzeln, falschen Freunden, erpreßbaren Killern, Zuhältern, Geheimagenten ver-

schiedenster Sorte und ideologischen Fanatikern entzog sich eigentlich jeder verantwortungsbewußten Beschreibung. Die Rühles erlebten, wie sich der Bruderzwist unter Linken durch Geheimdienstpraktiken bis zum Exzeß verschärfte.

Auch in jenen Kriegsjahren, in denen zahlreiche deutsche antifaschistische Emigranten in Mexiko Unterschlupf finden, bleiben Otto Rühle und seine Frau weitestgehend isoliert. Die Atmosphäre ist von wechselseitigem Mißtrauen vergiftet. Hinzu kommt die Armut. Otto Rühle malt Postkarten, die Alice an Touristenläden zu verkaufen versucht. Schreib- und Übersetzungsarbeiten bringen nur wenige Pesos. Am 26. Juni 1943 erliegt Otto Rühle einem Herzschlag. 69 Jahre ist er alt geworden. Seine um zwanzig Jahre jüngere Frau schreibt noch einen Brief (ihren letzten Willen zum Nachlaß und zur Einäscherung) und nimmt sich

das Leben. Ohne Otto Rühle mochte sie in solcher Zeit nicht mehr existieren.

In den vergleichsweise schönen Jahren in Friedewald bei Dresden hatte Milena Jesenskä (Prager Journalistin, Franz Kafkas Milena) zum Rühle-Freundeskreis gehört. Jetzt, im Sommer 1943, da die Rühles ihr Dasein beenden, ist Milena im KZ Ravensbrück eingesperrt. Dort kommt sie am 17. Mai 1944 im Alter von 48 Jahren um. Viel früher hatte ihr Kafka bewundernd geschrieben: „Die Du Dein Leben bis in solche Tiefen lebendig lebst“! Das gilt auch für Otto Rühle, der in seiner eigensinnigen skeptischen visionären Kraft die Tiefen dieses Jahrhunderts früh erahnte und doch bis zuletzt „lebendig lebte“.

Die vorangegangenen drei Folgen veröffentlichte ND am 30. Januar, 30. April und 22. Mai 1993.

KARL SONNENBÜRG

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