»Ist die SPD für Kritiken noch empfänglich?«

Gespräch mit Hermann Scheer, Bundesvorstandsmitglied der Sozialdemokraten

ND: Hat dieser Parteitag der SPD größere Einmütigkeit beschert?
Scheer: Es war unverkennbar, dass dieser Parteitag unter starken Spannungen stand, die aber kultiviert ausgetragen wurden, ohne persönliche Angriffe, ohne Hysterien.

Der von einigen gemutmaßte »Aufstand der Linken« ist ausgeblieben.
Mit solchen Worten wird sehr großzügig umgegangen. Ich hatte nicht den Eindruck, dass ein Aufstand geplant war. Es gab aber viele, nicht nur aus der Parteilinken, die gesagt haben, man könne sich auf diesem Parteitag nicht so verhalten, als sei nichts geschehen, als sei die SPD durch die zahlreichen Austritte nicht in größter Unruhe.

Viele in der Partei erwarten aber sicher mehr, als dass man ihnen vor allem sagt: Lasst uns besser vermitteln, was mit rot-grüner Regierungspolitik erreicht wurde. Reichen Ausbildungsplatzabgabe und Erbschaftssteuer, um die Kritiker zu besänftigen?
In gewisser Weise wird das viele besänftigen. Die große Frage lautete: Ist das, was jetzt unter dem Zwang der finanziellen Verhältnisse geschieht, ein Versuch der Rettung des Sozialstaates auf niedrigerem Niveau oder ist es der Beginn seines Abbruchs. Viele haben das Letztere befürchtet, was durch eine ganze Reihe von Äußerungen auch genährt wurde. Einige sozialdemokratische Politiker haben einen Eindruck erweckt, als seien sie Vorreiter des Wirtschaftsliberalismus. Es ist klar gestellt worden, dass das nicht sein darf.

Sie beklagen, dass die weltweite Herausforderung durch den Wirtschaftsliberalismus nicht genügend debattiert wird. Worüber wäre zu debattieren?
Wir müssen erkennen, dass in einem wirtschaftslibertären, dogmatischen Verfassungsrahmen - und das ist die Situation auf der europäischen Ebene und global seit dem Welthandelsvertrag - nicht gleichzeitig soziale ökonomische Politik möglich ist. Man kann nicht mit zwei sich widersprechenden Prämissen Politik machen, wovon die eine sogar vertragsrechtlich verbindlich geworden ist.
Das ist die Schlüsselfrage, vor der heute die gesamte Sozialdemokratie in Europa und weltweit steht: Wie konnte es kommen, dass seit den 90er Jahren ein solches Wirtschaftsdogma sich nicht nur entwickeln, sondern quasi Verfassungsbestandteil auf der internationalen Ebene werden konnte. Wir müssen diskutieren, wie man aus dieser Situation wieder heraus kommt, über sie hinaus kommt.

Kritisieren Sie mit dem Verweis auf die 90er Jahre - da regierte ja nicht die Sozialdemokratie in Deutschland - nur die Konservativen oder sehen Sie auch Defizite in der sozialdemokratischen Politik?
Ich spreche auch Defizite der sozialdemokratischen Diskussion in den 90er Jahren an, auch Defizite der linken kritischen Öffentlichkeit generell. Diese Defizite sind gravierend. Am 1994 verabschiedeten Welthandelsvertrag, der das wirtschaftslibertäre Dogma festschrieb und sogar als Weltverfassung hingestellt wurde, gab es damals kaum öffentliche Kritik. In den europäischen sozialdemokratischen Parteien wurde seit der Installierung des europäischen Binnenmarktes, der als Motor der europäischen Integration gedacht war, nie eine wirklich fundierte Kritik daran geübt, dass es nicht angeht, dass ein wirtschaftslibertäres Prinzip über alles gestellt wird.
Man muss sich nur vorstellen, was für eine heftige Debatte es geben würde, wenn man solche Prinzipien im Grundgesetz oder in der französischen, der italienischen oder gar der amerikanischen Verfassung verankern würde. Ein solches Leitprinzip ist in einer demokratischen Verfassung undenkbar, aber auf der europäischen und internationalen Ebene wurde es fast fraglos installiert. Jetzt spüren alle die Konsequenzen davon.

Die Kritik am globalisierten Wirtschaftsliberalismus hat sich außerhalb der Parteien aber schon länger entwickelt und formiert inzwischen eine internationale Bewegung. In Paris kamen in der letzten Woche über 60000 vorwiegend junge Menschen zusammen und forderten politische Veränderungen gerade auch von den sozialdemokratischen Parteien. Ist die SPD für solche Kritiken überhaupt noch empfänglich?
Ich habe am Weltsozialforum in Porto Allegre teilgenommen und dort auf Veranstaltungen gesprochen, war im letzten Jahr beim Europäischen Sozialforum in Florenz und jetzt in Paris. Was dort stattfindet, geht an den europäischen Parteiorganisationen weitgehend vorbei, von Einzelpersonen abgesehen.
Die französischen Sozialisten und bedingt auch die italienischen haben begonnen, diese Diskussion aufzunehmen, aber in der deutschen Debatte ist dies noch wenig spürbar. Dabei sollte diese Entwicklung gerade im größten Land der Europäischen Union, mit der größten sozialdemokratischen Partei, sehr aufmerksam wahrgenommen werden.

Symbolisiert der Begriff »demokratischer Sozialismus« für Sie noch etwas Positives?
Es gibt keinen politischen Leitbegriff, der nicht bereits durch irgendwelche Träger - nicht durch alle - unglaubwürdig gemacht wurde. Aber: Ja, demokratischer Sozialismus symbolisiert für mich eine Leitidee. Und dass die SPD von dieser Leitidee nicht lassen will, hat der Parteitag gezeigt. Wobei ich nicht zu denjenigen gehöre, die der Meinung sind, dass Olaf Scholz, als er diesen Begriff in Frage gestellt hat, im Sinne eines Minenhundes von Gerhard Schröder vorgeschickt worden war. Wer Gerhard Schröder kennt, weiß, dass er an solchen grundsätzlichen Debatten nicht besonders interessiert ist.

Fragen: Jürgen ReentsND: Hat dieser Parteitag der SPD größere Einmütigkeit beschert?
Scheer: Es war unverkennbar, dass dieser Parteitag unter starken Spannungen stand, die aber kultiviert ausgetragen wurden, ohne persönliche Angriffe, ohne Hysterien.

Der von einigen gemutmaßte »Aufstand der Linken« ist ausgeblieben.
Mit solchen Worten wird sehr großzügig umgegangen. Ich hatte nicht den Eindruck, dass ein Aufstand geplant war. Es gab aber viele, nicht nur aus der Parteilinken, die gesagt haben, man könne sich auf diesem Parteitag nicht so verhalten, als sei nichts geschehen, als sei die SPD durch die zahlreichen Austritte nicht in größter Unruhe.

Viele in der Partei erwarten aber sicher mehr, als dass man ihnen vor allem sagt: Lasst uns besser vermitteln, was mit rot-grüner Regierungspolitik erreicht wurde. Reichen Ausbildungsplatzabgabe und Erbschaftssteuer, um die Kritiker zu besänftigen?
In gewisser Weise wird das viele besänftigen. Die große Frage lautete: Ist das, was jetzt unter dem Zwang der finanziellen Verhältnisse geschieht, ein Versuch der Rettung des Sozialstaates auf niedrigerem Niveau oder ist es der Beginn seines Abbruchs. Viele haben das Letztere befürchtet, was durch eine ganze Reihe von Äußerungen auch genährt wurde. Einige sozialdemokratische Politiker haben einen Eindruck erweckt, als seien sie Vorreiter des Wirtschaftsliberalismus. Es ist klar gestellt worden, dass das nicht sein darf.

Sie beklagen, dass die weltweite Herausforderung durch den Wirtschaftsliberalismus nicht genügend debattiert wird. Worüber wäre zu debattieren?
Wir müssen erkennen, dass in einem wirtschaftslibertären, dogmatischen Verfassungsrahmen - und das ist die Situation auf der europäischen Ebene und global seit dem Welthandelsvertrag - nicht gleichzeitig soziale ökonomische Politik möglich ist. Man kann nicht mit zwei sich widersprechenden Prämissen Politik machen, wovon die eine sogar vertragsrechtlich verbindlich geworden ist.
Das ist die Schlüsselfrage, vor der heute die gesamte Sozialdemokratie in Europa und weltweit steht: Wie konnte es kommen, dass seit den 90er Jahren ein solches Wirtschaftsdogma sich nicht nur entwickeln, sondern quasi Verfassungsbestandteil auf der internationalen Ebene werden konnte. Wir müssen diskutieren, wie man aus dieser Situation wieder heraus kommt, über sie hinaus kommt.

Kritisieren Sie mit dem Verweis auf die 90er Jahre - da regierte ja nicht die Sozialdemokratie in Deutschland - nur die Konservativen oder sehen Sie auch Defizite in der sozialdemokratischen Politik?
Ich spreche auch Defizite der sozialdemokratischen Diskussion in den 90er Jahren an, auch Defizite der linken kritischen Öffentlichkeit generell. Diese Defizite sind gravierend. Am 1994 verabschiedeten Welthandelsvertrag, der das wirtschaftslibertäre Dogma festschrieb und sogar als Weltverfassung hingestellt wurde, gab es damals kaum öffentliche Kritik. In den europäischen sozialdemokratischen Parteien wurde seit der Installierung des europäischen Binnenmarktes, der als Motor der europäischen Integration gedacht war, nie eine wirklich fundierte Kritik daran geübt, dass es nicht angeht, dass ein wirtschaftslibertäres Prinzip über alles gestellt wird.
Man muss sich nur vorstellen, was für eine heftige Debatte es geben würde, wenn man solche Prinzipien im Grundgesetz oder in der französischen, der italienischen oder gar der amerikanischen Verfassung verankern würde. Ein solches Leitprinzip ist in einer demokratischen Verfassung undenkbar, aber auf der europäischen und internationalen Ebene wurde es fast fraglos installiert. Jetzt spüren alle die Konsequenzen davon.

Die Kritik am globalisierten Wirtschaftsliberalismus hat sich außerhalb der Parteien aber schon länger entwickelt und formiert inzwischen eine internationale Bewegung. In Paris kamen in der letzten Woche über 60000 vorwiegend junge Menschen zusammen und forderten politische Veränderungen gerade auch von den sozialdemokratischen Parteien. Ist die SPD für solche Kritiken überhaupt noch empfänglich?
Ich habe am Weltsozialforum in Porto Allegre teilgenommen und dort auf Veranstaltungen gesprochen, war im letzten Jahr beim Europäischen Sozialforum in Florenz und jetzt in Paris. Was dort stattfindet, geht an den europäischen Parteiorganisationen weitgehend vorbei, von Einzelpersonen abgesehen.
Die französischen Sozialisten und bedingt auch die italienischen haben begonnen, diese Diskussion aufzunehmen, aber in der deutschen Debatte ist dies noch wenig spürbar. Dabei sollte diese Entwicklung gerade im größten Land der Europäischen Union, mit der größten sozialdemokratischen Partei, sehr aufmerksam wahrgenommen werden.

Symbolisiert der Begriff »demokratischer Sozialismus« für Sie noch etwas Positives?
Es gibt keinen politischen Leitbegriff, der nicht bereits durch irgendwelche Träger - nicht durch alle - unglaubwürdig gemacht wurde. Aber: Ja, demokratischer Sozialismus symbolisiert für mich eine Leitidee. Und dass die SPD von dieser Leitidee nicht lassen will, hat der Parteitag gezeigt. Wobei ich nicht zu denjenigen gehöre, die der Meinung sind, dass Olaf Scholz, als er diesen Begriff in Frage gestellt hat, im Sinne eines Minenhundes von Gerhard Schröder vorgeschickt worden war. Wer Gerhard Schröder kennt, weiß, dass er an solchen grundsätzlichen Debatten nicht besonders interessiert ist.

Fragen: Jürgen Reents

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