Zentrum der Kulturen wurde Ziel des Todes

Schlägt der Terror den Weg nach Europa ein?

  • René Heilig
  • Lesedauer: 4 Min.
Offenbar ganz gezielt haben islamistisch-geprägte Terroristen die Türkei als ein Ziel ausgesucht. Die Anschläge richten sich nicht gegen die Türkei alleine, sondern gegen die gesamte so genannte westliche Zivilisation.
Istanbul ist eine Schnittstelle unterschiedlicher Kulturen, die Stadt vereint mit ihrer für die Türkei ungewohnten Toleranz scheinbare Gegensätze. Das verstärkt die Wirkung der Bombenanschläge. Faruk Sen, Direktor de Zentrums für Türkeistudien an der Universität Essen, bekräftigt diese Ansicht: »Der Terror hat sich mit der Türkei ein Ziel gewählt, in der die größtmögliche Destabilisierungswirkung erreicht wird.« Es geht nicht nur darum, die Westorientierung der Türkei in Frage zu stellen, auch deren Zugehörigkeit zur NATO sowie die Vasallenschaft zu den USA wird berührt. Nach langem, innen- und finanzpolitisch motiviertem Zaudern stellte Ankara sich in den Angriffsdienst der USA gegen Irak. Nun scheint man auch dafür die Quittung zu empfangen.
Al Qaida, so die übereinstimmende Ansicht von Experten, sei Urheber der Mordserie. Diese Ansicht vertrat August Hanning, Chef des Bundesnachrichtendienstes, bereits nach den Anschlägen vom Wochenende. Die Begründung, die Attacken seien präzise und gleichzeitig gegen zwei Ziele ausgeführt worden, ist etwas dünn, doch vermutlich besitzt man weitere, nicht öffentliche Belege. Auch die Echtheit der an zwei in London erscheinende arabische Zeitungen abgesetzten Bekenner-Mails ist nicht mit letzter Klarheit zu bestimmen. Gestern meldete sich abermals Al Qaida als Urheber. In ihrem Schlepptau dieser »Idee« schwimmt als ausführende Kraft die »Front der Vorkämpfer für den Großen Islamischen Ostens« (IBDA-C). Ursprünglich haben die türkischen Geheimdienste dieser Truppe eine solche Leistung nicht zugetraut. In den neunziger Jahren hatte deren Kraft gerade ausgereicht, um Bomben vor Bars zu legen. Dann jedoch bekam man heraus, dass die Mitglieder eine solide Ausbildung entweder bei der PKK oder in Afghanistan erhalten.
Bislang waren die westlichen und damit auch die türkischen Geheimdienste der Auffassung gefolgt, dass sich Osama bin Ladens Zellen vor allem aus Saudis, Algeriern, Marokkanern und Ägyptern rekrutieren, die mit ihrem Fundamentalismus in ihren Heimatländern nicht zum Zuge kamen. Nun erkennt man, dass durch die Vernetzung verschiedenster radikaler Gruppen eine Art Synergieeffekt entstand.
Mit einigem Erschrecken haben auch deutsche Sicherheitsbehörden zur Kenntnis genommen, dass nunmehr auch türkische Gruppen unterm großen Dach des »Bösen« agieren. In Deutschland leben 2,5 Millionen Türken, rund 600000 haben einen deutschen Pass. Diese Zahlen allein bieten keinerlei Grund für einen »Generalverdacht«. Zumal bisherige Erkenntnisse über radikale Gruppen mit türkischem Hintergrund stets belegten, dass es sich um eine verschwindende Minderheit handelt. Genau das macht Anti-Terror-Experten Sorge. Minisekten sind extrem gut abgeschottet gegenüber geheimdienstlicher »Manpower«. Das ist ohnehin nicht die Stärke westlicher Dienste. Experten halten es für möglich, dass man über die »Strecke BND« mehr über ausländische Terroristen in Deutschland erfährt, als vom Inlandsgeheimdienst.
Das zeigt sich auch im aktuellen Verfassungsschutzbericht. Die Gruppe IBDA-C wird nur als Begriff und mit dem Hinweis erwähnt, es handle sich um vereinzelte Aktivisten. Eine derartige Zurückhaltung signalisiert: Fromms Verfassungsschützer ahnen, doch wissen nicht. Dass die IBDA-C in Deutschland operiert, sollte spätestens seit dem Anschlag auf das türkische Generalkonsulat in Düsseldorf klar sein. Der geschah 2001, die IBDA-C übernahm die Verantwortung.
Einen Tag vor den jüngsten Anschlägen hat BND-Chef Hanning indirekt klargestellt, dass die von Bundesinnenminister Otto Schily geschnürten Terrorpakete nicht die erhoffte Wirkung haben. Nach Erkenntnissen des BND beteiligen sich extremistische Islamisten aus Europa an den Anschlägen gegen das USA-Militär in Irak. Auch aus Deutschland seien »Kämpfer aufgebrochen«. Und dann sagte Hanning einen Satz, der den so genannten Anti-Terror-Feldzug der USA, an dem sich Deutschland mit bis zu 3200 Soldaten beteiligt, ins Reich des Absurden schickt: Irak drohe zu einem Kristallisationspunkt für islamische Extremisten zu werden. Da in der islamischen Welt ein Gefühl der Demütigung durch den Westen empfunden werde, »fürchten wir, dass wir in Irak eine ähnliche Situation bekommen wie in Afghanistan unter sowjetischer Besatzung«, so Hanning.


DAX getroffen
Die Initiatoren der Bombenanschläge haben ihre Ziele nicht nur räumlich begrenzt auf Istanbul erreicht. Die Aktienmärkte in Europa sind gestern unmittelbar nach den Explosionen ins Minus gerutscht. In Frankfurt (Main) - einem Zentrum westlichen Wirtschaftslebens - sackte der Deutsche Aktienindex (DAX) auf knapp 3580 Punkte ab. Das bedeutet ein Minus von 1,98 Prozent gegenüber dem Vortagesschlusskurs. Lufthansa-Aktien und die des Reisekonzerns TUI wurden auf Talfahrt geschickt. In Paris fiel der Leitindex CAC 40 aus den 40 größten börsennotierten Unternehmen um gut 50 Punkte und lag knapp 0,8 Prozent unter dem Schlusskurs vom Mittwoch. Der Londoner Index FTSE-100 rutschte ebenfalls ins Minus und lag zwischenzeitlich 0,5 Prozent unterm Vorabendwert. Die Istanbuler Börse stellte den Handel ein.
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