Wer ist dieser Alexander Sowtschick, dieser distinguierte Herr mit Goldrandbrille und den abgeklärten Manieren eines Mannes über 70? Im Roman »Hundstage« ist er uns schon mal begegnet. Als Kriegsgefangener hat er in Sibirien Bäume gefällt, und vor die Wahl gestellt, sich für den Westen als seinen Gemüts- und Arbeitsraum entschieden. Seit den frühen Jahren der Bundesrepublik ist er den »Linken« im Lande suspekt, sein Ruf als konservativer Autor folgt ihm bis nach Amerika. So kommt es, dass man dort lieber Autoren aus der DDR zu Lesungen bittet, ihn aber nicht. Sowtschick macht sich lustig über die reisenden Kollegen, nennt den einen »Dünnbrettbohrer« (und riskiert einen Prozess wegen Verleumdung), gibt der anderen den Namen Fuchs, um anzudeuten, dass der Wolf nicht weit ist. Und wer mag diese Lyrikerin Ellen Butt-Promse sein, wer der Dichter Schätzing, der so schreiben kann wie Rilke persönlich?
Walter Kempowskis jüngster Roman »Letzte Grüße« ist kein Rätselspiel. Der 74-jährige Autor kann über sein etwas jüngeres Alter ego lachen; sie wohnen beide in stilvollen Landhäusern in norddeutscher Landschaft; sie sind beide verheiratet und haben der Geduld und Nachsicht ihrer Ehefrauen den Aufstieg in die gut bezahlten höheren Etagen der bundesdeutschen Literatur zu verdanken. Kempowski hat in Sibirien keine Bäume gefällt, dafür als junger Mann sieben Jahre in Bautzen gesessen. 1956 kam er in die Bundesrepublik, wurde Dorfschullehrer und Schriftsteller. Nun, da die Mauer in Ostberlin wankt und in Leipzig die Leute die Straße beherrschen, erinnert sich die amerikanische Germanistik an den alten Kritiker DDR-bestimmter Verhältnisse, und Sowtschick bekommt eine Einladung, als Gast der »Deutschen Wochen« von New York nach San Francisco und bis an die kanadische Grenze zu reisen. Soll er? Zuhause quält ihn ein angefangener Roman, für den der Verleger einen hohen Vorschuss bezahlt hat. Die Ehe mit Marianne könnte etwas Sehnsucht durch Abwesenheit des einen Partners vertragen. Und: die Kollegenschaft reist unentwegt nach Amerika, obschon die meisten von ihnen den Rang eines Sowtschick nicht aufweisen können. Also reist er. Doch was zieht er an, was für Gepäck ist das praktischste?
Kempowski gibt davon Kunde mit seinem bekannten trocknen Humor, dessen Würze im Detail liegt. Autor und Helden verbünden sich, wenn es darum geht, das eigene Werk in amerikanischen Bibliotheken aufzuspüren. Sowtschick? Sorry, nie gehört. Sie meckern gemeinsam, wenn der Gast aus Deutschland ins mieseste Hotel gesteckt wird oder in ein Gästezimmerchen auf dem Campus, das noch die Gerüche des verpönten Kollegen, von dem die Studenten schwärmen, bewahrt. Da ist der Reisende beleidigt und der Autor Kempowski mit ihm. Ein Anruf zu Hause könnte alles ins Lot bringen, aber die Heimat ist seltsam entrückt, und was von ihr bleibt, erscheint im Zerrspiegel amerikanischer Verhältnisse. Auf die telefonische Versicherung, Marianne zu lieben, antwortet diese mit der Frage nach den Gummistiefeln, die sie braucht, da der Keller des Hauses wieder einmal unter Wasser steht.
Der Gast aus Deutschland erlebt eitle Professoren, auf schnellen Sex bedachte nicht mehr ganz junge Mitarbeiterinnen, verarmte Indianer und die Anhänger einer bigotten Sekte, die in einem selbst gemachten künstlichen deutschen Mittelalter leben. Man wird nicht recht warm miteinander. Der Reisende fragt immerzu nach jenen Bomberpiloten, die im Zweiten Weltkrieg deutsche Barockkirchen eingeäschert haben. Es finden sich keine. Der Gast aus Europa ist nicht gekommen, alte Rechnungen aufzumachen, aber spüren lässt er die Amerikaner doch, dass er sie eher zur barbarischen Spezies der Menschheit zählt. Hier gewinnt der Roman, an dem Kempowski acht Jahre gearbeitet hat, zur Erholung quasi von seiner Chronistenfron am »Echolot«, eine beklemmende Aktualität.
Ständig mit sich selbst beschäftigt, legt Sowtschick die Nachrichten aus Deutschland beiseite. Und amerikanische Landschaft, amerikanische Städte sind hier wie zu Postkarten erstarrt. Der Reisende kann sie ignorieren. Nicht übersehen kann er die Alarmsignale einer mitgebrachten Krankheit, jenes feurige Horn, das auf der Netzhaut erscheint und sich am Schluss als Schlaganfall hervortut, gerade in dem Augenblick, da er das verdiente Geld zählt. Der Zimmerkellner eilt herbei, aber er ist Italiener und versteht das gehauchte »ma femme« des Sterbenden nicht; diesen letzten Gruß an seine Frau. Es kommt mit Hut und Stock der Dichter Schätzing und schiebt den Leichnam auf die Seite - ganz so wie Kafkas Käfer. - Der Autor gibt den Roman als letzten Gruß an seine Leser aus. Alles vorbei? fragt sich Sowtschick. Der Autor Kempowski hat ihn überlebt und ist ihm ins Wort gefallen.
Walter Kempowski: Letzte Grüße. Roman. Albrecht Knaus Verlag. 380S., geb., 22,90 EUR.
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