War Newton ein Betrüger?

Über die Schattenseiten der wissenschaftlichen Erkenntnisfindung

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 5 Min.
Wenn Medien über Irrwege der Naturwissenschaften berichten, ist gewöhnlich von Katastrophen die Rede: von der Freisetzung tödlicher Chemikalien, vom GAU in einem Atomkraftwerk oder vom Absturz eines Raumgleiters. Jene Irrwege, die den Prozess der Erkenntnisfindung selbst betreffen, werden dagegen nur selten beleuchtet, so dass in der Öffentlichkeit leicht der Eindruck entsteht, als sei das Unternehmen Wissenschaft zumindest in theoretischer Hinsicht eine geradlinige Erfolgsgeschichte. Dabei gehören Irrtümer ebenso zum Wesen der Erkenntnisfindung wie gelegentliche Täuschungen und Manipulationen. Denn auch Wissenschaftler sind nur Menschen und somit anfällig für Emotionen wie Neid, Missgunst, Habgier und Stolz, meint der amerikanische Wissenschaftshistoriker Hal Hellman und präsentiert in seinem Buch »Zoff im Elfenbeinturm« (Wiley-VCH Verlag, 236 S., 24,90 Euro) zehn der folgenreichsten Dispute der Geistesgeschichte, um dies zu belegen. Einige davon haben längst Eingang in die Populärliteratur gefunden, wo sie mitunter die These illustrieren, dass die Vertiefung der Naturerkenntnis ein vorwiegend von Sachzwängen dominierter Prozess sei. Die Wirklichkeit indes sieht ganz anders aus, wie bereits der klassische Streit zwischen Galileo Galilei und Papst Urban VIII. über die Bewegung der Erde zeigt, in dem der Urvater der Mechanik, anders als die Legende behauptet, den experimentellen Beweis für seine Thesen schuldig blieb. »Sollte man wahrhaftig beweisen können, dass die Sonne den Mittelpunkt des Weltalls bildet«, erklärte Kardinal Bellarmin 1616, »müsste man sorgfältig überlegen, wie die Teile der Schrift auszulegen wären, die das Gegenteil zu behaupten scheinen«. Soweit jedoch bekannt sei, fuhr er fort, gebe es keinen solchen Beweis. Diese Aussage war damals zweifellos korrekt. Dennoch versicherte Galilei seinen Zeitgenossen, dass er über entsprechende Beweise verfüge. Da er dies häufig mit viel Arroganz tat, so Hellman, habe er sich unter seinen Kollegen zahlreiche Feinde gemacht, die ihn aus gekränkter Eitelkeit schließlich bei der Kurie als Ketzer anschwärzten. Waren also letztlich Charakterschwächen daran schuld, dass Galilei vor dem Inquisitionsgericht landete? Immerhin hatte der Papst dem berühmten Forscher zuvor sechs Audienzen gewährt, die jeweils über eine Stunde dauerten. Nein, meint Hellman, auch ohne intrigante Feinde wäre Galilei in Bedrängnis gekommen, da seine Lehre die Kirche über kurz oder lang herausfordern musste. Nur wäre der Streit dann vermutlich nicht so stark eskaliert. Andere Dispute, wie der zwischen Voltaire und John Needham über die Entstehung des Lebens, sind wohl weniger bekannt, aber nicht weniger aufschlussreich, da sie zeigen, wie hartnäckig und infam der Widerstand gegen neue wissenschaftliche Erkenntnisse zuweilen ist. So wurde Needham, der die Entstehung des Lebens aus anorganischer Materie zu erklären versuchte, von Voltaire öffentlich als Betrüger und Scharlatan diffamiert und, was seinerzeit als noch schlimmerer Vorwurf galt, der Homosexualität bezichtigt. Selbst der radikal antiklerikale Voltaire glaubte an ein göttliches Wesen und eine kontinuierliche Schöpfung des Lebendigen, da er sich einen untätigen Gott nicht vorzustellen vermochte. Viel hämische Kritik musste auch der deutsche Meteorologe Alfred Wegener einstecken, dessen Theorie der Kontinentalverschiebung in Forscherkreisen lange als »abwegig« galt. Der bekannte Wiener Klimatologe Fritz Kerner-Marilaun sah darin gar »die Fieberphantasie eines von Krustendrehkrankheit und Polschubseuche schwer Befallenen«. 1930 kam Wegener bei einer Grönlandexpedition ums Leben. Seine Theorie indes wurde um 1960 durch ozeanographische und paläomagnetische Messungen prinzipiell bestätigt. Selbst auf dem Gipfel des Ruhms verfolgen manche Wissenschaftler unbarmherzig und rücksichtslos ihre Interessen. Man denke nur an Isaac Newton, der zwar als Erster die Differenzial- und Integralrechnung (Infinitesimalrechnung) schuf, es danach aber versäumte, sie in die europäische Mathematik einzuführen. Das tat einige Jahre später Gottfried Wilhelm Leibniz, der unabhängig von Newton zu ähnlichen Ergebnissen gelangt war und diese in einer Formelsprache präsentierte, die bis heute gebräuchlich ist. Als er daraufhin des Plagiats bezichtigt wurde, bat er ausgerechnet die Royal Society um Klärung, an deren Spitze kein Geringerer als Newton stand. Pflichtgemäß kam die Gesellschaft zu dem Schluss, dass der Vorwurf des geistigen Diebstahls gerechtfertigt sei, was Newton später zu der Feststellung veranlasste, er habe Leibniz »das Herz gebrochen«. Damit nicht genug soll Newton sogar wichtige experimentelle Daten, unter anderem die Schallgeschwindigkeit, an seine jeweilige Theorie angepasst haben. War er deshalb ein Betrüger? Im weitesten Sinne ja, meint der Humangenetiker Heinrich Zankl, der in seinem Buch »Fälscher, Schwindler, Scharlatane« (Wiley-VCH Verlag, 286 S., 24,90 Euro) den »Fall Newton« sowie eine Vielzahl echter Betrugsaffären aus der Wissenschaft behandelt. Die meisten davon geschahen um des schnellen Erfolgs willen - wie das Beispiel der deutschen Krebsforscher Friedhelm Herrmann und Marion Brach zeigt, die sich mit Hilfe gefälschter Publikationen in den frühen 90er Jahren Fördergelder in Höhe von 800000 Mark erschlichen hatten. Während ein solches Verhalten im Wissenschaftsbetrieb mehr oder weniger hart bestraft wird, gilt das »Schönen« von Ergebnissen nicht selten als Kavaliersdelikt, noch dazu, wenn berühmte Wissenschaftler es praktizieren. So ließen beispielsweise Gregor Mendel und der Physik-Nobelpreisträger Robert Millikan (USA) bei der Auswertung von Experimenten stark abweichende Messwerte einfach weg, um vermutete Regelmäßigkeiten aus der unübersichtlichen Flut der Daten deutlich herauszufiltern. »Vielleicht gehört es zur Genialität einzelner Wissenschaftler«, so Zankl, »dass sie intuitiv erfassen, welche Werte wichtig sind und welche vernachlässigt werden können.« Auch Newton verfügte zweifellos über diese Intuition. Und er wusste sie bei der Schaffung einer neuen Physik brillant einzusetzen. Ihn deshalb einen »Meister der Datenmanipulation« zu nennen, wie Zankl es tut, dürfte kaum gerechtfertigt sein. Denn namentlich bei der Fundierung der Mechanik hatte Newton seine angeblich zu genauen Ergebnisse nicht durch Manipulation gewonnen, sondern durch die Benutzung der Infinitesimalrechnung, die er selbst für viel zu kompliziert hielt, als dass seine Zeitgenossen sie verstehen könnten. Er fügte daher seine exakten Daten geschickt in den herkömmlichen Formalismus ein, ohne darüber ein Wort der Erklärung zu verlieren. Das war in der Tat ein Verstoß gegen die heute anerkannten Regeln der Wissenschaft. Gleichwohl besteht kein Anlass, Newton deswegen in die Nähe von Betrügern oder Scharlatanen zu rücken.

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