»Ich stieg und stürzte ab«

Vor 125 Jahren wurde der Schriftsteller Georg Kaiser geboren

Der 13. Oktober 1920 beginnt für ihn mit einem Schock. Georg Kaiser, 41Jahre alt und wieder einmal in Berlin unterwegs, wird am Morgen im Hotel Esplanade aus dem Bett geholt und ins Polizeipräsidium am Alexanderplatz gebracht. Man wirft ihm Unterschlagung, Betrug und anderes vor, denn er hat, finanziell ruiniert, aus einer gemieteten Villa in Tutzing Teppiche und Bilder verpfändet. Zwei Tage später schickt Kaiser einen Hilferuf an seinen Verleger Gustav Kiepenheuer nach Weimar. »Es ist nicht auszudenken!«, schreibt er. »Bitte, bitte unternehmen Sie gleich alles Notwendige, um die rascheste Aufhebung dieser Haft zu erreichen.« Der Verleger tut, was er kann. Er bezahlt die Hotelrechnung, er kümmert sich um die anfangs ebenfalls inhaftierte Frau sowie die drei Kinder, die man in ein Armenasyl gesteckt hat, er übernimmt später sogar die Bürgschaft für den enormen Schuldenberg, aber verhindern kann er nicht, dass sein Autor in München zu einem Jahr Gefängnis verurteilt wird. Zum Glück muss die Strafe nicht ganz verbüßt werden. Im April 1921 wird Kaiser vorzeitig entlassen. Er ist, 1878 in Magdeburg geboren, damals schon ein Mann mit einer Reihe von Dramen und vielen Versuchen, auf dem Theater Fuß zu fassen. Den Durchbruch schaffte er 1917, als gleich zwei seiner wichtigsten Stücke aufgeführt wurden: »Die Bürger von Calais« und »Von morgens bis mitternachts«. Seitdem ist er nach Gerhart Hauptmann der meistgespielte Dramatiker Deutschlands, einer, der von Erfolg zu Erfolg eilt, der Älteste in der Schar der expressionistischen Rebellen, die für die Erneuerung des Menschen streiten. Er ist vielseitig wie kaum ein anderer, beherrscht die Mittel der Revue, der Posse, der Komödie, auch der klassischen Tragödie, ein »Denkspieler«, wie man sagt, der seine Texte mit geradezu mathematischer Präzision entwirft und sich (etwa mit seinen Dramen »Gas« und »Gas. Zweiter Teil«) als vehementer Gesellschafts- und Sozialkritiker profiliert. Er bringt die chaotischen Zustände, die Krieg und Revolution verursacht haben, in rasanten, grellen Bilderbogen auf die Bühne, ein Virtuose des Theaters, der immer wieder in die Hölle blickt, in die Abgründe einer Welt, die nicht so bleiben darf, wie sie ist, und die, um anders zu werden, einen anderen Menschen verlangt, einen, der frei ist und kein aggressives Tier. Kein Dramatiker wird gleich nach dem Ersten Weltkrieg so umjubelt wie Georg Kaiser. 1918 schafft er gleich acht Uraufführungen. Er lebt inzwischen auf großem Fuß. Schon 1908 kaufte er von der Mitgift seiner Frau ein Haus in Seeheim an der Bergstraße, und 1911 hat er überdies eine Villa in Weimars nobler Gegend Am Horn bezogen. Er gönnt sich jeden Luxus, ist viel auf Reisen, er übernachtet in den teuersten Hotels und steuert im Eiltempo der Katastrophe entgegen. 1918 ist er schon derart verschuldet, dass sein Weimarer und Seeheimer Eigentum beschlagnahmt wird. »Ich bin«, schreibt er im September 1920 seiner Frau, »kein Dichter mehr, sondern ein Jäger nach Geld...« Später, 1942, wenn er einmal auf sein Leben blickt, wird er feststellen, dass es »keine glatte Landschaft mit Wiesenfrieden und Wälderrauschen« ist - »nein, es ist ein zerklüftetes Gebirge mit Schneegipfeln und wüsten Abgründen. Ich stieg und stürzte ab - ich raffte mich auf und klomm wieder hinan.« Aus dem Gefängnis entlassen, zieht Kaiser nach Grünheide am östlichen Rand Berlins. »Das war der einzige Ort«, wird er eines Tages sagen, »an dem ich wirklich gelebt habe.« Hier, in idyllischer Gegend, findet er, eine Weile wenigstens, sein Gleichgewicht wieder. Er schreibt wie besessen ein Stück nach dem anderen. Die Figuren, die er entwirft, erleben Inflation und Weltwirtschaftskrise. Sie stöhnen unter den Lasten des industriellen Fortschritts, ausgeliefert einem unbarmherzigen Kapitalismus. Und er hat Erfolg. Von 1921 bis 1923 gibt es sieben Uraufführungen und neun weitere Inszenierungen. Schließlich entdeckt ihn auch der Film. Er verdient glänzend. Die Einnahmen reichen trotzdem nicht. Die Briefe, die er verschickt, Klagen, Mahnungen, Hilferufe, drehen sich fast ausnahmslos ums Geld, um Tantiemen, Honorare, Vorschüsse. Kaiser bleibt ein Getriebener, einer, der buchstäblich ums Leben schreibt. Ende 1932 verliert er alles, sogar die Möbel und Bücher. Wochen danach stellt er fest, dass er schrecklich gealtert ist. »Ich war vor einem Jahr noch jung. Ich sehe mich im Spiegel und erschauere. Es ist aus.« Natürlich ist damit nicht nur seine private Misere gemeint. Am 18. Februar 1933 ist sein Wintermärchen »Der Silbersee« mit der Musik Kurt Weills gleich in drei Städten aufgeführt worden: in Leipzig, Magdeburg und Erfurt. In Leipzig nimmt Kaiser noch einmal Beifall entgegen, in seiner Geburtsstadt hingegen endet alles mit dem Ruf nach der Absetzung des Stücks. Er sei »nicht länger tragbar«, befindet im Mai 1933 auch die Sektion Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste. Inzwischen wohnt Kaiser wieder in Grünheide, aber jetzt hat er nicht mehr als ein Zimmer, »dem die Tapeten von den Wänden fallen«. Er hat, glaubt er, nur noch eine Wahl: »Hungertod oder Selbstmord«. Oder das Exil. Am 7. Juli 1938 fährt er nach Holland, wo er nur sechs Wochen bleibt, dann entscheidet er sich für die Schweiz. Ihm bleiben bis zum Tod im Sommer 1945 sieben Jahre. Er verbringt sie in bitterer Not. »Georg Kaiser hat in den letzten sechs Monaten 15 Kilo abgenommen. Ich werde wohl für ihn auch noch kochen müssen. Er muß uns erhalten bleiben!« Das schreibt am 30. Juli 1942 Julius Marx in sein Tagebuch. Marx, der aus einer der ältesten jüdischen Familien Baden-Württembergs stammt und dessen Wohnung in Zürich ein Treffpunkt der Emigranten wird, hat dem Freund immer wieder hilfreich unter die Arme gegriffen. Seinem Buch »Georg Kaiser, ich und die anderen«, 1970 erschienen, und dem umfangreichen Briefband Kaisers, 1980 von Gesa M. Valk ediert (und 1989 mit einer weiteren Briefausgabe im Verlag Gustav Kiepenheuer ergänzt), verdanken wir das Bild eines Schriftstellers, der alle Kräfte aufbieten muss, um dem Elend irgendwie zu trotzen. Er arbeitet immer noch, schreibt Gedichte, fängt Romane an, die er dann liegen lässt (und die Fragment bleiben), und ist ein ums andere Mal auf die Solidarität der Freunde angewiesen. Zuletzt, im März 1945, hat er noch einmal Erfolg. Radio Toulouse sendet eine Hörspielfassung seines Stücks »Die Bürger von Calais«. Das Honorar könnte er gut gebrauchen. Er stiftet es den Opfern von Oradour. Heute, 125 Jahre nach seiner Geburt, ist es still um ihn geworden. Die zwei Werkausgaben (die sechsbändige von Walther Huder im Propyläen-Verlag und die dreibändige von Klaus Kändler 1979 bei Aufbau) sind lange vergriffen. Auf den Spielplänen der Theater kommt er kaum vor. Immerhin: Im Literaturhaus Magdeburg hat er seit 1995 einen Platz, und Grünheide, wo es einen Literaturverein Georg Kaiser gibt, ehrt ihn in jedem Juni, seinem Todesmonat, mit einem Georg- Kaiser-Tag. Dann kommt, immer ein mit Neugier erwartetes Vortragsmanuskript im Gepäck, auch Prof. Gesa M. Valk aus den USA, heute wohl die beste Kennerin dieses mit 70 Stücken, mit Romanen, Gedichten und Aufsätzen so produktiven und gehetzten Mannes, der als Dramatiker Konstrukteur und Artist war, fantasiebegabt und einfallsreich, ein Autor, der auch die Mittel der Kolportage glänzend beherrschte. Brecht hat sich bei ihm eine Menge abgeguckt. Am Traum vom neuen Menschen hat Georg Kaiser noch festgehalten, als er, einsam ...

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