Georgien nach der Ära des Eduard Schewardnadse

Was folgt nach Jubel und Freudenschüssen auf den Straßen von Tbilissi?

  • Irina Wolkowa, Moskau
  • Lesedauer: ca. 5.0 Min.

Nach Demonstrationen und Freudenfeiern kehrte am Montag wieder Ruhe in den Straßen von Tbilissi ein. Reinigungskräfte räumten den Abfall auf. Die Menschen gingen wieder zur Arbeit, heißt es. Sofern sie Arbeit haben.

Im Tbilissier Nobelrestaurant »Lord« herrscht seit gestern wieder der gewohnte Alltag. Lange Tische und noch längere Trinksprüche. Der Tamada erteilt den Mitgliedern der Tafelrunde nach einer strengen, nur den Georgiern bis ins Detail verständlichen Ordnung das Wort: Auf den Sarg aus der Eiche, die erst am nächsten runden Geburtstag gepflanzt wird! Auf das Leben! Auf die Liebe! Und auf Sakartvelo - Georgien. Jetzt mehr denn je. Der Fernseher, den man gleich nach den gefälschten Wahlen am 2. November in den Saal gestellt hatte, läuft wieder leiser, weil das die Musikanten stört. Letzte Woche war das anders. In Erwartung der vom Staatsfernsehen angekündigten »absoluten Sensation« verstummten die Fiedler auf einen herrischen Wink des Tamada, der - in Georgien eine Sensation für sich - mitten im Toast innehielt, um den entscheidenden Satz bloß nicht zu verpassen. Beileibe nicht die Rücktrittserklärung Schewardnadses. Vielmehr sollte es um jemanden gehen, der für das Staatsfernsehen lange Zeit eine unerwünschte Person war: der vormalige Parlamentsvorsitzende Surab Shwania, der zum oppositionellen Block seiner Nachfolgerin an der Parlamentsspitze, Nino Burdshanadse, gehört. Shwania, so hieß es, sei homosexuell, was besagen sollte, er könne Georgien nicht regieren. Zum Beweis dieser These wurde eben jene Kassette angekündigt, die im »Lord« für erwartungsvolle Stille sorgte. Gezeigt wurde dann, wie Botono Surab einem kleinen Jungen den Kopf tätschelte. Originalton Shwanijas »Tschemi kutunya bitschi« - in etwa: Kleiner Bengel mit kleinem Pimmel. Der Saal reagierte mit dröhnendem Lachen, in dem ein bisschen Enttäuschung mitschwang. Das angebliche »kompromittierende Material« fällt in Georgien gemeinhin unter Folklore. Doch Shwania, hochintellektuell, ist der eigentliche Vordenker der Opposition und gefährlicher als Madam Nino und Mischunja - Michail Saakaschwili, ein Berufskrakeeler und Chef der Nationalen Bewegung - zusammengenommen. Eben er, so kalkulierte Schewardnadse durchaus berechtigt, würde unter einer Präsidentin Burdshanadse im Hintergrund die Fäden ziehen wie seinerzeit Fürst Potjomkin bei Katharina II. Denn ihm selbst sind die höchsten Ehren versagt. Nicht so sehr wegen seiner möglichen »unkonventionellen sexuellen Orientierung« (wie Derartiges in den verbal prüden Nachfolgestaaten der UdSSR taktvoll umschrieben wird). Shwanias größter Nachteil sind seine armenischen Wurzeln. Dennoch dürfte das Programm, mit dem die Opposition in die kommenden Wahlen gehen will, seine Handschrift tragen. Der neue Präsident und das neue Parlament werden zeitgleich im Januar gewählt. Für Georgi Normalverbraucher ist das unglaublich viel Zeit, weshalb jetzt erst einmal ausgiebig der Sieg über das Ende einer Epoche begossen wird. »Chmara« - es reicht. Dreißig Jahre Schewardnadse sind genug. Mit diesem Ruf stürmte die Opposition am Sonnabend das Parlament und am Sonntag die Residenz. Ihre Führer hielten Eduard Amwrosijewitsch Schewardnadse eine bereits fertige Rücktrittserklärung unter die Nase, die der nur noch zu unterschreiben brauchte. Die ersten Schüsse fielen erst am Sonntagabend im Stadtzentrum von Tbilissi. Freudenschüsse, wie im ganzen Kaukasus üblich. Nicht zuletzt diese Allgegenwart von Schießprügeln lässt befürchten, dass der Jubel womöglich verfrüht war. Zu Recht fragte Schewardnadse bei der Unterzeichnung des Rücktrittgesuchs, an wen er die Macht denn eigentlich übergebe. Gute Frage, denn statt der gefährlichen Doppelherrschaft droht nun ein kaum weniger gefährliches Machtvakuum: kein gewählter Präsident und das Parlament - weil bereits abgewählt - mit zweifelhafter Legitimation. Dazu kommt, dass die Nationalgarde, laut CIA-Handbuch immerhin 11000 Mann, bisher jede eindeutige Stellungnahme verweigerte. Definitiv zur Opposition sind bisher ganze 270 Mann übergelaufen. Völlig zu Recht warnte Schewardnadse daher vor seinem Abgang nochmals vor einer Wiederholung der Ereignisse vom Herbst 1991, als unter ähnlichen Umständen sein Vorgänger Swiad Gamsachurdia gestürzt wurde. Unter Freudenschüssen, die alsbald zum Bürgerkrieg eskalierten, von dem sich die Republik bis heute nicht erholt hat. Bis zum heutigen Tag kontrolliert die Zentralregierung in Tbilissi ein Drittel ihres Hoheitsgebietes nicht. Die Kontrolle wird sie in absehbarer Zeit wohl auch nicht wieder gewinnen. Eher das Gegenteil scheint der Fall: Nicht etwa ein Anhänger der Opposition hat, wie die zunächst verbreitet hatte, im westgeorgischen Sugdidi die Macht übernommen, sondern ein Gefolgsmann von Schewardnadse-Vorgänger Gamsachurdia. Und Aslan Abaschidse, der Chef der Schwarzmeer-Autonomie Adsharien - ein Viertel Georgiens und dicht bevölkert - drohte für den Fall eines gewaltsamen Machtwechsels schon mit der Schließung der Grenzen, was faktisch auf den Austritt der Autonomie aus dem Bestand Georgiens hinausläuft. Solchen Ansprüchen kann Abaschidse mit einer eigenen Nationalgarde von immerhin 20000 Mann jederzeit den nötigen Nachdruck verleihen. Möglicherweise mit Unterstützung Russlands und der Nachbarn im Süden und Südosten - Armenien und Aserbaidshan, die bereits zu verstehen gaben, dass sie dem »unkontrollierten Machtwechsel« (so der aserbaidshanische Präsident Ilham Alijew) äußerst ablehnend gegenüberstehen. Ähnlich äußerten sich sogar die Herrscher im abtrünnigen Südossetien und in der Muslim-Region Abchasien am Schwarzen Meer. In der Nachbarschaft befürchtet man, wovor inzwischen auch der erzkonservative frühere Sicherheitschef Georgadse, alles andere als ein Freund Schewardnadses, nach dessen erzwungenem Rücktritt warnte: den endgültigen Zerfall Georgiens in mehrere, nach ethnischem Prinzip organisierte Zwergstaaten mit einander teilweise ausschließender Interessenlage und ebenso gegensätzlichen außen- und sicherheitspolitischen Prioritäten. Das aber würde schon mittelfristig den gesamten Kaukasus destabilisieren, wo Kriege der regionalen Großmächte - Iran, das Osmanische Reich und später Russland - ständig den Verlauf der Grenzen korrigierten, die häufig mitten durch das Siedlungsgebiet der weit über hundert Völkerschaften verlaufen. Daraus resultierende gegenseitige Gebietsansprüche spülten durch den Zerfall der Sowjetunion wieder an die Oberfläche und sind keinesfalls gelöst. Eben diese Entwicklungen aber kann auch oder vielmehr gerade die georgische Opposition nicht gebrauchen, und jetzt schon gar nicht. Denn sie muss sich der Masse nicht nur als Motor für demokratische Reformen, sondern auch als neuer Sammler der georgischen Lande empfehlen, um im neuen Parlament und bei den vorgezogenen Präsidentschaftswahlen jene Mehrheiten einfahren zu können, von denen sie bisher lediglich hofft, dass sie bestehen. Außerdem muss sie noch lernen, den gleichen, zuweilen halsbrecherischen, zuweilen an Selbstverleugnung grenzenden Spagat Schewardnadses aufs Parkett zu legen, der nicht zuletzt scheiterte, weil der Interessenausgleich zwischen den beiden selbst ernannten Schutzmächten - Russland und den USA - zunehmend zur Quadratur des Kreises geriet. Es war ein schwerer taktischer, womöglich sogar strategischer Fehler der Oppositionsführer, die Vermittlung von Russlands Außenminister Igor Iwanow auszuschlagen, den sie dadurch unfreiwillig ihrem schärfsten Konkurrenten in der neuen Runde des georgischen Machtpokers in die Arme trieben. Iwanow flog gleich nach dem Scheitern seiner Mi...

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