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Wahlkrampf statt Wahlkampf

Partei der Macht sagte Fernsehdebatten ab

  • Irina Wolkowa, Moskau
  • Lesedauer: 4 Min.
Am kommenden Sonntag wird in Russland ein neues Parlament gewählt. Das Land ist mitten im Wahlkampf, den manche allerdings als Wahlkrampf erleben.
Als Boris Jelzin noch im Kreml herrschte, war nicht Wahlkrampf sondern Wahlkampf: Mann gegen Mann, Auge um Auge, Zahn um Zahn. Bissig, böse, beinhart. Wenn jetzt dagegen am Freitagabend Slawik Schusters Talkshow »Freiheit das Wortes« über den Bildschirm flimmert, quälen Papiertiger sich und die Zuschauer über 90 Minuten Sendezeit. Potenzielle Verbündete, die mit fast identischen Programmen in den gleichen Jagdgründen auf Stimmenfang gehen, verschleißen sich in der Debatte um zweitrangige Nuancen drittrangiger Probleme: Wie muss die ideale 153. Durchführungsbestimmung zur 321. Ergänzung der Unternehmenssteuerreform aussehen? Die Langeweile ist berechnet: Russlands Opposition ist beim Kampf um die 450 Sitze in der Staatsduma, die am 7. Dezember neu gewählt wird, der Gegner abhanden gekommen. »Einiges Russland« - die Partei des Kremls - hat nämlich den Boykott aller Fernsehdiskussionen beschlossen. Es gebe momentan »keinen würdigen Gegner und ebenbürtigen Partner« in der Arena, meinen die »Bären«, wie sie nach dem Kürzel ihrer 1999 gegründeten Vorgängerorganisation genannt werden. Weil viele ihrer Spitzenpolitiker jedoch hohe Staatsämter bekleiden, sind sie beim staatlichen Sender RTR und im halbstaatlichen Ersten Programm ohnehin allgegenwärtig. Obwohl sie sich offiziell, wie das Gesetz es fordert, für die Dauer des Wahlkampfs beurlauben ließen. Für Innenminister Boris Gryslow ist das kein Grund, bei der Tour durch die Regionen auf die gewohnte Polizeieskorte zu verzichten: Neben Kradfahrern, die für freie Fahrt sorgen, gehört dazu ein ganzer Bus voll Milizionäre, die auch als Claqueure zur Verfügung stehen und dem Kandidaten die richtigen Fragen stellen. Laut Wahlgesetz heißt das »Einsatz der administrativen Ressourcen« und kann bei Wiederholungstätern zur Disqualifikation führen. Bei anderen würde es das auch, behauptet die Opposition, kann es aber nicht beweisen, denn weder Kommunisten noch »Demokraten« haben ein Amt, das mit derartigen Privilegien verbunden ist. »In Europa«, hatte der Programmchef des Ersten schon bei den Duma-Wahlen im Dezember 1999 erkannt, »wählen die Wähler Parteien ins Parlament, und die wählen eine Regierung. In Russland dagegen müssen wir dafür sorgen, dass die Regierung im Parlament die Mehrheit bekommt, die sie verdient.« Denn wie ihre vorrevolutionäre Schwester unterm Zaren hat auch die moderne Duma nicht allzu viel zu sagen. Der Präsident kann die Regierung samt Premier nach Belieben ernennen und wieder absetzen. Zwar muss die Duma den Regierungschef bestätigen, doch wenn sie den oder die Kandidaten des Kremls dreimal durchfallen lässt, kann der das Parlament auflösen und eine neues wählen lassen. So einfach funktioniert gelenkte Demokratie! Glaubt man dem Politologen Andrej Piontkowski, haben die »Bären« in Wahrheit guten Grund, Fernsehduelle zu meiden: Ohne Charisma und schlüssiges Konzept könnten sie einfach nicht schlüssig reden. Piontkowski wörtlich: »Die können immer nur eins sagen: O Putin, du unser ein und alles!« Damit locke man keinen mündigen Wähler hinter dem Ofen hervor. Einen ganz anderen Grund für die Zurückhaltung der Kremlpartei lässt indes die jüngste Veröffentlichung der kritischen »Nowaja Gaseta« befürchten. Die Zeitung veröffentlichte Zahlen, von denen sie behauptet, es handle sich um das zu erwartende amtliche Endergebnis, das schon jetzt feststehe. Über die Zusammensetzung der neuen Duma, warnte das Blatt unter Berufung auf »kompetente Quellen«, entscheide nämlich nicht der Wählerwille, sondern dessen »Optimierung«. Präsidentenamt und der Föderale Wachdienst, eine Untereinheit des Geheimdienstes FSB, die auch für das elektronische System der Stimmenerfassung und -auszählung zuständig ist, hätten sich über flächendeckende Fälschungen verständigt, um »Einiges Russland« die gewünschte Mehrheit zu verschaffen. Die Einheitsrussen würden demnach laut »Nowaja Gaseta« zwischen 40 und 43 Prozent einsammeln. Als »Spender« müssten vor allem die KPRF und die liberale Partei »Jabloko« herhalten, denen 12 bis 15 bzw. 5 bis 6 Prozent zugedacht seien, während sich ihr reales Stimmenpotenzial in Größenordnungen von 30 bis 35 und 8 bis 12 Prozent bewegt. Von den »Korrekturen« sollen angeblich auch die möglichen, gegenwärtig schwächelnden Juniorpartner der Einheitsrussen profitieren - die »Liberaldemokraten« von Wladimir Shirinowski und der Linksblock »Rodina« (Heimat), mit dem Sergej Glasjew in den Jagdgründen der KP wildert. Beide brauchen Hilfe, um die Fünf-Prozent-Klausel zu nehmen, denn nur dann können sie der Kremlpartei die absolute Mehrheit in der Duma verschaffen. Führende Oppositionspolitiker wie KPRF-Vorsitzender Gennadi Sjuganow, der auf der letzten Sitzung der alten Duma am Freitag ebenfalls vor dem »georgischen Syndrom« warnte und anderen Oppositionsparteien ein Bündnis und die gemeinsame alternative Stimmenauszählung anbot, wären daher schon froh, wenn es gelänge, wenigstens jene Zweidrittelmehrheit von 300 Stimmen für die Einheitsrussen zu verhindern, die Verfassungsänderungen ermöglicht. Anderenfalls, so Jabloko-Chef Grigori Jawlinski, drohe ein Polizeistaat.
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