Der Zynismus heutiger Strukturen

Krieg als Mittel der Politik? Nachdenken über Terror, Antiterror und Kants Auftrag an die Intellektuellen

  • Ekkehart Krippendorff
  • Lesedauer: 10 Min.
Krieg als Mittel der Politik mit Fragezeichen: Ja, was ist er denn sonst? Gewiss kein Naturereignis, kein blindes Schicksal, das »ausbricht«, kein kollektiver Unfall, kein massenpsychologisches Phänomen. Es gibt keinen Krieg in der Geschichte, der »von unten« begonnen worden wäre, weil ein aufgebrachtes Volk seine Regierung dazu gedrängt, weil die Regierten von sich aus den Ruf »Zu den Waffen!« erhoben hätten. Insofern hat der optimistische Kant da noch immer recht mit seiner Feststellung, dass kein Volk in freiem Entschluss zu seinem eigenen Schaden »alle Drangsale des Krieges über sich selbst beschließen« würde; wo Kriege mit Zustimmung und aktiver Unterstützung ihrer Bevölkerungen geführt, oder genauer: begonnen wurden, da hatten die Regierungen zuvor allerhand Tricks anwenden müssen, um als Angegriffene dazustehen - siehe Erster Weltkrieg, und zwar auf allen Seiten. Als nach diesem Weltkrieg der Angriffskrieg geächtet, der Verteidigungskrieg aber weiterhin erlaubt wurde, da bemerkte der klarsichtige Karl Kraus, dass von nun an alle Kriege eben Verteidigungskriege sein würden. Und so ist es auch gekommen - vom Führer angefangen, der am 1. September 1939 »um 5:45 Uhr zurückschoß«, bis zum präventiven Verteidigungskrieg der US-Regierung in Irak. Dass die Bundeswehr der Bundesrepublik einen auch von der Verfassung eingeschränkten bloßen Verteidigungsauftrag hat(te), ändert nichts an der Tatsache, dass es eben eine Bundeswehr gab, und dass dieser die gesellschaftliche Anerkennung gesichert wurde (»Bürger in Uniform«) und sie dergestalt eine feste institutionelle Rolle im politischen System unserer Gesellschaft einnahm (in der DDR gelang diese gesellschaftliche Verankerung und Akzeptanz wohl etwas weniger); neue Aufgaben würden sich dann schon finden lassen, wenn die alten - nach der »Wende« - wegfielen. Und sie wurden gefunden - bis hin zur »Verteidigung am Hindukusch«, wie uns der Verteidigungsminister belehrt. (Es darf in diesem Zusammenhang historisch daran erinnert werden, dass sowohl die bemerkenswerte schweizer Abschaffungs-Initiative mit ihren 38 Prozent Zustimmung als auch die deutsche öffentliche Meinung, die 1989/90 mehrheitlich für eine Auflösung der Bundeswehr zu haben war, »gekippt« wurden durch die dramatische Kuweit-Invasion Saddam Husseins.) Eine Welt ohne Krieg konnten sich die verschiedenen einander ablösenden politischen Klassen der Bundesrepublik so wenig vorstellen, wie eine Bundesrepublik überhaupt ohne Armee, wie einen Staat ohne sein Militär - sie nicht, und keine andere Staatsregierung auch nicht; den Gratis-Mut, 1990 die Volksarmee schlicht aufzulösen und damit ein symbolisches Zeichen radikalen Neubeginns zu setzen, hatten auch die unverhofft »zur Macht« gekommenen DDR-Dissidenten nicht. Niemand scheint den Kopf darüber zu schütteln, dass die amerikanische Besatzung in Irak als ersten wichtigen Schritt zur Rekonstruktion des irakischen Staates sich an den Wiederaufbau einer irakischen Armee macht - zur Verteidigung, wie es auch ganz explizit heißt; Aufbau von Polizei- und bewaffneten Einheiten für die innere Sicherheit, das versteht man ja noch gut - aber wozu braucht dieses unterworfene Land als wichtigste Stütze seiner Staatlichkeit eine Armee? Die Erklärung dieses Paradoxons ist so schwer nicht und soll darum hier auch nicht weiter verfolgt werden. Nur festzuhalten bleibt: Der Krieg ist eine Funktion militärischer Strukturen der Staaten, das Militär ist die Bedingung der Möglichkeit von Krieg als Mittel usw. Nun gibt es eine Art analytischer Debatte über die »neuen Kriege«, derzufolge der Krieg sich gewissermaßen verselbstständigt habe - von den Befreiungskriegen bis hin zu den ethnischen, religiösen und tribalen sog. »Bürger«-Kriegen, wo die Warlords, die Kriegsherren zu neuen Arbeitgebern und Sicherheitsgaranten für ihre Klientel werden und der Staat - zumindest der im großen Kontinent Afrika, aber auch im Mittleren Osten und in Südostasien - ein Oktroi der Kolonialherrschaft war; desintegriert, weil er zu keiner Zeit mehrheitliche bürgerlich-nationale Identifikationen (um es europäisch auszudrücken) gestiftet hat, also nie auch Zivilmacht mit Rechtsstaatlichkeit und nationalen politischen Kulturen war. Das ist richtig - und greift doch entschieden zu kurz. Gerade und vor allem, weil sich aus diesem Umfeld das relativ neue Phänomen des Terrorismus erhebt, das ja die Fortsetzung des territorialstaatlichen Zerfallsprozesses mit anderen Mitteln betreibt und befördert. So gut, wie wir festhalten müssen, dass der Krieg ein Mittel militarisierter Politik war und, trotz katastrophaler Erfahrungen, geblieben ist (vor allem im machtpolitischen Arsenal der atlantischen, westlichen Mächte, angeführt von der amerikanischen Regierung; die sowjetische war da eher zurückhaltend-konservativ und beschränkte ihn auf die Blockerhaltung), so gut können und müssen wir auch die These aufstellen, dass der Terrorismus ein Mittel der Politik war und heute mehr denn je geworden ist. Darüber wäre politologisch systematisch und historisch in Ruhe nachzudenken, aber wir - wir Intellektuellen und die öffentliche Meinung, für die wir mitverantwortlich sind, von unseren Regierungen ganz zu schweigen - machen es uns zu einfach, wenn wir dem Terrorismus das politische Kalkül absprechen, wenn wir ihn schlicht als Verbrechen bezeichnen und uns nicht die Mühe machen, ihn wenigstens im größeren strukturellen Kontext der Machtkonkurrenz zu sehen. Zwar gibt es Ansätze dazu, etwa indem bestimmte außenpolitische Aktionen einzelner Regierungen - der USA und Israels insbesondere - als »Staatsterrorismus« gekennzeichnet werden; aber bisher ist das eine alles andere als akzeptierte Begrifflichkeit. Wäre sie im öffentlichen Diskurs legitimiert, würde der Terrorismus als Mittel der Politik auch analytisch zumindest zugänglicher werden und nicht als psychopathologisches, ideologisches (»fundamentalistisches«) oder sonstiges abartiges Problem fanatisierter Wirrköpfe abgetan und kriminalistisch bekämpft. Krieg als Mittel der Politik: Eines der - unausgesprochenen, aber nach dem Zweiten Weltkrieg zumindest in Europa nicht begründungsbedürftigen - Motive für die Ächtung des Krieges war die Erfahrung, dass das Mittel Krieg moralisch unzulässig hohe Opfer Unbeteiligter, also Zivilisten, Frauen und Kinder gefordert hatte, und zwar um ein Vielfaches höher als unter den Kämpfenden. Hat sich das aber seitdem geändert? Etwa bei den heute völkerrechtlich legitimierten, »humanitäre Interventionen« genannten Kriegen, von den nicht legitimierten, also verbrecherischen ganz zu schweigen? Die UNO-Sanktionen gegen den Irak haben bekanntlich hunderttausende Tote, vor allem Kinder und Kranke, zur Folge gehabt. Und die Regierungen, die das legal mittrugen, wussten es. »It is worth it«, antwortete Ex-US-Außenministerin Madelaine Albright auf die Frage, ob der Preis von einer halben Million toter Kinder nicht vielleicht etwas zu hoch sei, um das (früher aktiv geförderte) Regime Saddam Husseins in die Knie zu zwingen. Und diese massen-tödliche Strategie hat bekanntlich nicht einmal ihr Ziel erreicht. Wenn wir - zu Recht - den Terrorismus-Strategen brutalen Zynismus vorwerfen (und Gnade uns Gott vor den Regimen, die diese Leute, wenn sie ihre Ziele erreichen würden, errichteten!), so ist der Zynismus-Vorwurf mit gleicher Deutlichkeit und Unerbittlichkeit zu richten auch an die Verursacher solcher quantitativ noch größeren Massenverbrechen. Dass die Terroristen den Tod Dutzender, manchmal Hunderter, im Falle der Twin Towers sogar Tausender ahnungslos-unschuldiger Menschen in Kauf nehmen, um ihre spektakulären symbolischen Ziele zu erreichen und sich als politische Macht zu qualifizieren, sollte nicht vergessen lassen, dass der Begriff der »collatoral damages« von den Zynikern westlicher Staatssprecher erfunden worden ist, um die zivilen Opfer ihrer rechtsbrecherischen Kriegspolitik zu verharmlosen. Im Fall Irak handelt es sich immerhin um mehr als 10000 Menschen. Der moderne Krieg ist selbst eine terroristische Veranstaltung. Ich möchte ganz ausdrücklich der qualitativen Unterscheidung widersprechen, die zwischen der personalen und der für die Friedensforschung so zentral zu ihrem Selbstverständnis gehörenden strukturellen Gewalt gemacht wird. Nicht, dass ich nicht verstünde, dass eine Waffe in die Hand zu nehmen und zu töten - und, darüber hinaus, uniformiert-organisiert zu töten - das Überschreiten eines Rubicon bedeutet. Tatsächlich haben Friedensforscher selbst diesen Rubicon leider wiederholt überschritten, wenn sie der Gewaltfreiheit nicht unter allen Umständen, absolut und kompromisslos das Wort bei der Diskussion von Konfliktlösungsvorschlägen geredet haben: Nur darin nämlich besteht ihre Identität als Friedensforscher und ihr selbstübernommener gesellschaftlicher Auftrag. Andere mögen militärische Interventionen gut und plausibel begründen - und damit taktisch bisweilen sogar die praktikableren Argumente haben -, aber das ist kein Grund, die essenzielle Friedensforschungsethik aufzugeben oder zu verwässern; nämlich: »Mache für jeden zu analysierenden Konflikt unter allen Umständen einen gewaltfreien Lösungsvorschlag!« Ich verstehe den brutalen Zynismus der Terrorismuspolitik als eine spezifische Erscheinungsform des strukturellen Zynismus, der die politischen und ökonomischen Klassen global befallen hat, denen Menschenleben, die Bewahrung des Lebens als Leben so gut wie die Menschenwürde eines halbwegs gesicherten Daseins (von der Ökologie ganz zu schweigen) völlig gleichgültig und nur als taktisches Kalkül von marginaler Bedeutung sind. Für mein Verständnis ist beispielsweise die rücksichtslose Ausnutzung der Schwäche indischer Umwelt- und Industriegesetzgebung durch US-amerikanische Firmen (es hätten auch deutsche sein können) symptomatisch für diesen Werteverfall im weltgesellschaftlichen Ausmaß. Diese Firmen haben in Bophal eine Chemieproduktion errichtet, der bei einer Explosion Zehntausende zum Opfer fielen, wofür die verantwortlichen Manager in den USA vor kein Gericht gestellt und den Opfern keine Entschädigung gezahlt wurde. Auch bei uns, auch hier zu Lande hält sich die Empörung über diesen, wie gesagt, symptomatischen Vorfall bestenfalls in Grenzen als Kollateralschaden des fortschrittlichen Kapitalismus und der Marktwirtschaft; erst Arundhati Roy hat uns im Kontext des 11. September wieder darauf aufmerksam machen müssen. Unser struktureller Zynismus ist Ausdruck eines realpolitischen Diskurses geworden, der zwar beispielsweise die Globalisierung verbal und im Detail kritisiert, der aber ihre »kollateralen Verbrechen« nicht als solche beim Namen nennt - und der nun gegen den Terrorismus, diese böse Frucht des global operierenden Zynismus der herrschenden Klassen, seinerseits den terroristischen Krieg als Mittel zur Bekämpfung einsetzt. Dass der Irak-Krieg völkerrechtswidrig, also rechtlich gesehen ein Angriffskrieg, ein großes Verbrechen war und ist, das wissen wir, es wissen auch alle staatlichen Kanzleien - und trotzdem gehen sie und wir zur Tagesordnung über. Denn es gilt ja, »nach vorn zu schauen«. Das Wir sind wir, die Intellektuellen, die Analysten, die Meinungsmacher. Wir machen uns kritische Gedanken über die große Politik, über die Außenpolitik unserer Regierungen, auf die wir keinerlei Einfluss haben, und für die unsere kritischen Meinungen zu diesen oder jenen operativen Aspekten der Diplomatie bestenfalls ein ärgerliches Geräusch auf ihrer Straße darstellen. Und wir vernachlässigen darüber die einzige Kompetenz, die wir als kritische Intellektuelle haben: Nämlich aus der Distanz mit dem Privileg, weder entscheiden zu dürfen noch entscheiden zu müssen, moralische Urteile fällen zu können - laut, deutlich, eindeutig. Es geht darum, nicht nur dem Verbrechen des Terrorismus, sondern seinem großen Zwillingsbruder in der Methode, dem Verbrechen des Krieges, seinen Namen zurückzugeben. Um Bertolt Brecht in leichter Paraphrasierung zu zitieren: »Unsichtbar macht sich das Verbrechen, indem es sehr große Dimensionen annimmt.« So lange wir das nicht aussprechen im Lichte des Tages, so lange wir diese unsere genuine Aufgabe als »Schreibtischtäter« nicht wieder wahrnehmen - es ist die Rolle, die der große Voltaire den Intellektuellen vorgegeben und vorgelebt hat - haben wir nicht nur einen schweren Stand, uns über die Zunahme von offener Gewalt zu beklagen, ob staatlich organisierter oder substaatlich verschworener, sondern wir werden auch ungewollt zu beider Komplizen. Immanuel Kant hat uns da eine klare Richtschnur moralischen Urteilens hinterlassen, die immer wieder zu erinnern ist: »Die wahre Politik kann keinen Schritt tun, ohne vorher der Moral gehuldigt zu haben, und ob zwar Politik für sich selbst eine schwere Kunst ist, so ist doch die Vereinigung derselben mit der Moral gar keine Kunst; denn diese (die Moral) hat den Knoten entzwei, den jene (die Politik) nicht aufzulösen vermag, sobald beide einander widerstreiten - das Recht der Menschen muß heilig gehalten werden, der herrschenden Gewalt mag es auch noch so große Aufopferung kosten. Man kann hier nicht halbieren, und das Mittelding eines pragmatisch-bedingten Rechts (zwischen Recht und Nutzen) aussinnen, sondern alle Politik muss ihre Knie vor dem ersteren (dem Recht) beugen, kann aber dafür hoffen, ob zwar langsam, zu der Stufe zu gelangen, wo sie beharrlich glänzen wird.« Prof. Dr. Ekkehart Krippendorff, Jg. 1934, Politikwissenschaftler (Professuren in den USA, in Italien, England, Japan sowie an der FU Berlin) ist Autor zahlreicher Bücher. Vorliegender Text basiert auf einem Vortrag kürzlich auf einer Tagung der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW) in Berlin. Foto: R. Michel
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