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Ein Ort, wie viele Welten?

»Landnahme« von Christoph Hein - ein Roman über 50 Jahre deutscher Geschichte

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 6 Min.
Geschichte eines Aufstiegs: ein bürgerlicher Entwicklungsroman. Vom armen, gedemütigten Umsiedlerkind wurde Bernhard Haber zum Präsidenten des Karnevalsvereins. Was kein Ulk ist, sondern eine Machtposition. Wer 5000 Mark Jahresbeitrag locker von der Steuer absetzen kann, darf im Klub die Fäden ziehen, damit alles nach Wunsch läuft in Guldenberg. Guldenberg: Schon Christoph Heins Roman »Horns Ende« spielte dort. Eine fiktive Kleinstadt irgendwo zwischen Naumburg und Leipzig. Ähnlichkeiten mit Bad Dürrenberg, wo Christoph Hein aufgewachsen ist, sind nicht von Belang. Dass er ebenfalls im Schlesischen geboren wurde und wohl hautnah spürte, wie es den aus ihrer Heimat Vertriebenen in der Fremde erging, damit enden die Gemeinsamkeiten mit Bernhard Haber auch schon. Christoph Hein, ein Pfarrerssohn, der über Umwege und gegen Behinderungen in der DDR zum Philosophiestudium kam, freiberuflicher Schriftsteller seit 1979, ein Intellektueller. Bernhard Haber, Kind eines einarmigen Tischlers, Dauerkandidat fürs Sitzenbleiben, ist selber Tischler geworden - und am Ende der zweitreichste Mann in der Stadt. Er hat es geschafft. Mit Bernhards Selbstgewissheit beginnt und endet der Roman. Aschenputtel wird Prinzessin. Doch dies ist kein rührseliges Märchen. Auch ein Moralstück ist es nicht. Des Autors Blick: scharf, ruhig und nüchtern. Ihn illusionslos zu nennen, heißt, dass man selber Illusionen hat. Illusionen von Kultur: dass es über die Jahrhunderte geprägte Normen und Wertmaßstäbe gäbe, Mitmenschlichkeit und ein von der Gemeinschaft gefördertes Streben des einzelnen, sich zu bilden, ein Besserer zu werden. Von einem Weimarer Klassenzimmer aus mochte es mir einst so scheinen. Später erfuhr ich, dass jener Lehrer, der uns geradezu als Denkmal für diese Gedanken erschien, schon in der NS-Zeit an der Schule war und Buchenwald als sowjetisches Lager kannte. Umsiedlerkinder gab es in meiner Klasse nicht. Oder ich wusste nichts von ihnen. Was es damals für einen Unterschied machte, ein paar Jahre früher oder später geboren worden zu sein! Bernhard Haber ist zehn, als er nach Guldenberg kommt. Aus Breslau, sagt er, und der zackige Mathelehrer weist ihn zurecht: Wroclaw. »Oder meinst du, in Italien leben heute die Römer? Und Istanbul, das nennt ihr in Hinterpommern wohl noch immer Konstantinopel oder Byzanz, .................................................................. Es waren damals schon verschiedenen Sphären: Die nur ihrem Eigeninteresse lebten, und diejenigen, die sich im Glauben gefielen, für alle etwas voranzubringen. Die »Aktiven« - sie dünkten sich den vermeintlich »Passiven« überlegen und ahnten gar nicht, wie tief sie verachtet wurden. .................................................................. wie? Und du kommst aus Wroclaw. Hast du das verstanden?« »Polacke«, nennen ihn die Kinder hinter seinem Rücken. Und die Elteren sagen, die Umsiedler lebten auf Kosten der Stadt. Man habe sie nicht gerufen und habe selbst genug Opfer bringen müssen. Sie hätten nicht das Recht, »anderen Leuten ihre Heimat zu nehmen, nur weil man ihnen ihre Heimat nahm ... Es sind zu viele Fremde.« Wie die Zigeuner wären sie. - Später würde Bernhards erwachsener Sohn mit seinen Kumpanen zwei »Fidschis« aus dem Karnevalsumzug holen. Weil es »ein deutsches Fest« ist. Ist es heute wieder so, wie es mal war. Oder ist es nie anders gewesen? Kein anklagend erhobener Zeigefinger, nein. Seit jeher war es Christoph Heins Bestreben: zu erkennen. Urteilen mag der Leser selbst. Der Autor hat sich mit dem intellektuellen Trost begnügt, gesellschaftliche Phänomene - die ihn schmerzen - von verschiedenen Seiten her zu analysieren. Die Präzision ist seine Stellungnahme. Sich klar zu werden und sich abseits zu halten: eine Übung, die er schon lange beherrscht. Erinnere dich! Wie ein Leitmotiv durchzog diese Forderung auch den Roman »Horns Ende«. »Ich kann mich an Sie nicht erinnern«, sagt Bernhard Haber zu Beginn der »Landnahme« zu einem einstigen Banknachbarn. Die Absage gilt. Und doch lebt der Text von Erinnerungen - wie in »Horns Ende« auf mehrere Personen verteilt. Fünf Monologe: Drei Männer und zwei Frauen, die zu verschiedenen Zeiten ihres Lebens mit Bernhard bekannt waren, sprechen über ihn und über sich, die eigene Jagd nach dem Glück oder was sie dafür hielten. Ein Gesellschaftsbild? Ja, aber anders, als es sich unsereins zu DDR-Zeiten dachte. Die hier zu Wort kommen, lebten und leben fern von der Politik. Der erste Ich-Erzähler, Thomas Nicolas - er war es, der den einstigen Klassenkameraden im Prolog nach seinen Erinnerungen fragte -, der Apothekerssohn, ist wohl nun selbst ein Studierter und fährt am Ende zurück nach Berlin. Die anderen: schlechte Schüler. Katharina Hollenbach, Tochter eines Großbauern, hübsche Gärtnerin, hat mit List und Charme ihren Weg gemacht zur Leiterin eines Jugendklubs. Marion Demutz, Bernhards erste Freundin, Friseuse, hatte sich damals einen Traumprinzen gewünscht. Wäre sie bei dem Umsiedlerjungen geblieben, denkt sie heute manchmal, hätte sie ein Haus mit Garten, ein eigenes Auto und eine Haushaltshilfe. Peter Koller, kein Vertriebener wie Bernhard, sondern einer von den Ausgebombten, hatte einfach Pech bei ihrem gemeinsamen Geschäft. Er saß im Gefängnis, und Bernhard richtete sich eine moderne Werkstatt ein vom großen Geld. Diese Werkstatt und Bernhards Durchsetzungswille imponierten Sigurd Kitzerow, Sägewerksbesitzer und inzwischen reichster Mann in Guldenberg. »Eiskalt und knallhart ist der Junge«, sagt er zu seiner Frau. »Ist er nicht ein Umsiedler?«, entgegnet sie. »Von denen« habe doch noch nie jemand »etwas rechtes zustande gebracht.« - »Du wirst es erleben. Der weiß, was er will, und er bekommt, was er will.« Und die große Geschichte? Sie läuft gleichsam nebenher, vom einzelnen beurteilt danach, wie sie ihm nützt oder schadet. Christoph Hein porträtiert diejenigen, an denen die DDR-Ideologie vorbeirauschte. Die schweigende Mehrheit, die es schon in jeder Schulklasse gab, resistent gegen alle Bekehrungsversuche. Diejenigen, die geleitet wurden und mitmachten, soweit nötig; die brav zur Wahl gingen, erst für das eine stimmten und dann für das andere. Worüber mancher heute noch den Kopf schüttelt. Es waren damals schon verschiedenen Sphären: Die nur ihrem Eigeninteresse lebten, und diejenigen, die sich im Glauben gefielen, für alle etwas voranzubringen. Die »Aktiven« - sie dünkten sich den vermeintlich »Passiven« überlegen und ahnten gar nicht, wie tief sie verachtet wurden. Christoph Hein hat über Menschen geschrieben, die seine Bücher nie lesen werden. Auch das ist eine Grenze, die durch die Gesellschaft verläuft. Mauern von Argwohn, wohin man schaut. Umsiedler und Einheimische, Deutsche und Ausländer, Reiche und Arme, Arrivierte und Zu kurz Gekommene, Glückliche und Unglückliche. »Lerne gut, dann wirst du was« - Kinder merken schnell, dass diese Maxime nicht so ganz stimmt. Es geht immer um Kräfteverhältnisse - und wie man sie zu eigenen Gunsten verändern kann. »Landnahme«: Wer nimmt sich, und wem wird genommen? Geheime Kämpfe. Gerechtigkeit gibt es nicht. Mehrmals werden Flammen lodern im Roman, ein Hund wird mit einer Drahtschlinge erdrosselt und später ein Mensch, Rache wird geschworen und Gras wird drüber wachsen. Wer sich benachteiligt fühlt, wehrt sich und schädigt einen anderen. Der wiederum . Und so weiter und so fort. Menschen in Großaufnahme, so genau beobachtet, dass sie gleichsam lebendig erscheinen. Sie gieren, sie leiden, sie sehnen sich, sie weinen - und kein Himmel über ihnen. Christoph Hein: Landnahme. Roman. Suhrkamp Verlag. 357 Seiten, Leinen, 19,90 Euro.

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