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Der Absturz bleibt ohne Erklärung

Enthüllungen und neue Fragen zum Ende des ersten Kosmonauten Juri Gagarin Von HORST HOFFMANN

  • Lesedauer: 4 Min.

Unter der Überschrift „Who killed the Hero?“ veröffentlichte das USA-Fachblatt Space News 14/1994 einen Beitrag von Juri Karash über das tragische Schicksal des ersten Kosmonauten Juri Gagarin. Der Autor wurde im „Sternenstädtchen“ genannten Kosmonauten-Ausbildungszentrum „Juri Gagarin“ bei Moskau auf einen Raumflug vorbereitet und strebt gegenwärtig ein Doktorat für.Raumfahrtpolitik an der American University in Washington an. Mit der Unterzeile wird die Richtung seiner Darstellung angegeben: „Das Geheimnis von Gagarins Leben beginnt sich zu entwirren aber die Fragen um den Tod des Kosmonauten sind nach wie vor unbeantwortet.“

Karash geht von dem Absturz der MiG-15 aus, bei dem Juri Gagarin und Wladimir Seryogin am 27. März 1968 den Tod fanden. Mehr als 20 Jahre lang seien die Dokumente über die Untersuchung geheim gehalten worden, weil es an diesem Tage ernste Versäumnisse der Bodenleitstellen gab. Außerdem habe sich eine zweite Maschine zur gleichen Zeit in dem betreffenden Luftraum aufgehalten, deren Pilot nichts vom Flug der MiG-15 wußte. Die Auswirkungen von Turbulenzen blieben offen, und die Ursachen des Unglücks wurden nie genau geklärt.

Seryogin war jedoch einer der erfahrensten Flugzeugführer der Sowjetunion, der solche Situationen durchaus zu meistern verstand. Als Pilot erster Klasse, der höchsten Kategorie in den Luftstreitkräften der UdSSR, verbuchte er 4000

Flugstunden, davon 500 Solostunden als Kampfflieger. Gagarin hatte nur 300 Flugstunden auszuweisen und war somit nur Pilot dritter Klasse. Dennoch wurde ihm nach seinem Raumflug die erste Kategorie verliehen.

Die Unterlagen über die medizinischen Untersuchungen besagen, daß sich beide Flieger in ausgezeichnetem physischen Zustand befanden. In den Überresten ihrer Körper wurden keinerlei Anzeichen für einen Adrenalinausstoß gefunden. Daraus schlössen die Ärzte, daß die Havarie so plötzlich eintrat und der Absturz so schnell erfolgte, daß keine Angstzustände auftreten konnten. Auch Spekulationen über alkoholische Exzesse wurden widerlegt, fanden sich doch nicht die geringsten Reste von Alkohol.

„Gagarins Weltruhm machte ihn zu einem Volkshelden. Die einfachen Menschen sahen in dem ersten Kosmonauten ihren Verteidiger gegen Machtmißbrauch“, erklärte General Beletserkowski, einer der führenden Aerodynamik-Spezialisten, der an der Untersuchung des Unglücks beteiligt war. Gleichzeitig jedoch öffneten sich dem „Helden der Sowjetunion“ nach dem Raumflug die Türen zur sowjetischen Führungsclique. Das öffnete ihm aber auch die Augen über den tiefen Widerspruch zwischen dem korrupten Leben einiger weniger und der elenden Existenz vieler Armer. „Gagarin war ein sehr intelligenter und aufmerksamer Mensch“, sagte der General. „Er traf sich mit vielen Leuten und war bestrebt, ihnen zu helfen. Er war

aber auch sehr emotional und verzweifelte, wenn er nichts ausrichten konnte. Ein Gefühl von Unzufriedenheit und Machtlosigkeit wuchs in ihm.“

Generaloberst Kamanin, Teilnehmer der legendären Flugzeug-Hilfsexpedition zur Rettung der arktischen „Tscheljuskin“-Besatzung im Jahre 1934 und erster Chef des Kosmonauten-Korps seit 1960, erinnerte sich in seinem Tagebuch: „Ich verstehe, daß Gar garin auf die Dauer einem sol-, chen Druck nicht widerstehen“ konnte. Deshalb setzte ich mich dafür ein, die Belastungen zu begrenzen, zumal bei den Treffen viel getrunken wurde.“

Es gab auch Versuche, den Mann aus dem All in Breshnews Hofstaat einzubeziehen, doch Gagarin widerstand. Er setzte vielmehr alles in Bewegung, um wieder fliegen zu können. So war er Double für die Erprobung von Sojus 1 durch Wladimir Komarow Doch als dieser tödlich verunglückte, wurde Juri von der Vorbereitung auf weitere Weltraummissionen ausgeschlossen. Der ehemalige Chef der sowjetischen Luftstreitkräfte, Hauptmarschall Werschinin, erinnerte sich: „Die Partei- »und Staatsführung wollte kein weiteres Risiko eingehen. Gagarin sollte in ein lebendes Denkmal verwandelt werden.“ General Kamanin konterte zwar- „Wenn wir ihm die Hoffnung auf einen neuen Raumflug nehmen, dann können wir ihn auch gleich töten.“ Doch seine Meinung Wurde nicht berücksichtigt. Zwischen der historischen Tat am 12. April 1961 und dem tragischen Tod am 27 März 1968 führte

Gagarin keinen weiteren Raumflug durch, obwohl in dieser Zeit acht bemannte Unternehmen in der Sowjetunion erfolgten.

Juri war jedoch nicht der Mann, untätig herumzusitzen und konzentrierte seine Aktivitäten auf das Fliegen mit Düsenmaschinen. Doch auch dem wurden Hindernisse in den Weg gelegt. Sein weltweites Ansehen und seine schnelle Karriere vom Leutnant zum. Oberst und Deputierten des Obersten Sowjets rief den Neid von Vorgesetzten hervor, die in ihm einen Konkurrenten witterten. Deshalb wollten sie Gagarin zu einer bedeutungslosen Gallionsfigur machen und aus dem aktiven Dienst entfernen.

Alle Schwierigkeiten mißachtend, bemühte sich Juri hartnäckig um seine Fluggenehmigung. Der Start mit Wladimir Seryogin war als Kontrollflug gedacht, nach dem Gagarin sein Einzeltraining wieder aufnehmen wollte. Doch von diesem Einsatz kehrte er nicht zurück. Die Rettungsmannschaft fand die Überreste der Maschine über eine Fläche von 600 Quadratmetern verteilt. Dennoch gelang es den Ärzten, einige Körperteile der beiden Piloten zu identifizieren. Gagarin wurde an seinem Haupthaar und seiner Gesichtshaut erkannt. Bis heute konnte jedoch nicht klar festgestellt werden, was zu dem Unglück und dem Tod des ersten Kosmonauten führte. Die Dokumente, die nunmehr der Öffentlichkeit zugänglich sind, haben zwar zuvor unbekannte Tatsachen enthüllt, doch die meisten von ihnen bleiben strittig.

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