Legalitäts- und Opportunitätsprinzip
gen. Indessen wird darüber, wann pflichtgemäßes Ermessen noch gegeben ist, wenn gar ein Ermessensmißbrauch vorliegt, gestritten werden können.
Auch die Strafprozeßordnung kennt in Gestalt der §§ 153 ff Ausnahmen vom Legalitätsprinzip. Das Legalitätsprinzip, das als besonderes Kennzeichen des Rechtsstaats angesehen wird, gilt somit ohnehin nicht durchgängig.
Im übrigen darf nicht übersehen werden, daß schon die Grundregel des § 152 Abs. 2 StPO in sich eine der Bewertung unterliegende Vorbedingung enthält: Die Staatsanwaltschaft hat gegen alle Straftaten einzuschreiten, sofern zureichende Anhaltspunkte vorliegen. Ob und wann solche vorliegen, hängt nicht nur von tatsächlichen Anhaltspunkten (eines hinreichenden, nicht nur vagen Tatverdachts), sondern vor allem von deren Bewertung als solche Anhaltspunkte ab, die einen derartigen Tatverdacht zu begründen vermögen. Es hängt weiter notwendigerweise auch von deren rechtlicher Zuordnung zu einem gesetzlichen
Straftatbestand, also auch von der rechtlichen Bewertung, ab.
Diese Bewertung wird nun ihrerseits nicht nur von der juristischen Ausbildung des betreffenden Staatsanwalts, sondern auch von seiner Lebens- und Berufserfahrung und der daraus gebildeten Lebensan-
schauung und Einstellung zu den strafrechtlich relevanten Vorgängen und dabei auch von der Einstellung zu verschiedenen Personengruppen bestimmt. So gesehen, ist das Legalitätsprinzip in der Praxis vom Opportunitätsprinzip nicht so weit entfernt, wie es die Lehrmeinung vorgibt.
Das veranschaulichen schon die Fälle des Absehens von der Strafverfolgung gem. §§ 153 ff StPO. Denn streng genommen hat nämlich auch in diesen Fällen, in denen das Gesetz davon spricht, daß der Staatsanwalt (bzw. das Gericht) das Verfahren einstellen kann, der betreffende Beschuldigte (bzw. Angeklagte) einen Rechtsanspruch darauf, daß bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen so verfahren wird - so daß dieses „kann“
eigentlich wie ein „muß“ zu lesen ist. Es handelt sich jedenfalls nicht um eine Gnadenentscheidung.
Diese gesetzlichen Voraussetzungen sind aber weit gefaßt. Sie haben nach wie vor in der Rechtspraxis noch keine faßbaren Konturen angenommen, so daß das Absehen von der Strafverfolgung den Bürgern nicht selten zufällig, nicht nachvollziehbar, wenn nicht gar willkürlich erscheinen muß - zumal die massenhafte Anwendung dieser Vorschriften in formelhaften Entscheidungen stattfindet, die nicht begründet werden müssen und die grundsätzlich unanfechtbar sind.
(Daran hat übrigens auch die an sich zu begrüßende Erweiterung der Einstellungsmöglichkeiten nach dem Rechtspflegeentlastungsgesetz vom März 1993 nichts geändert.)
Angesichts der Ungewißheit des Verfahrensausganges (oft mit ganz erheblichen finanziellen Belastungen für den Betreffenden verbunden) findet sich daher (auch mit anwaltlichem Rat) der Beschuldigte bzw. Angeklagte nicht selten zu
einer solchen Verfahrenserledigung nach § 153 bzw. § 153 a StPO bereit, die ihm die Vorbestraftheit erspart. Eine solche Verfahrenserledigung wird im übrigen auch von der Justiz vielfach bevorzugt, weil sie einfacher ist, Arbeitsaufwand erspart und sie vor allem einer Begründung und Anfechtbarkeit solcher Entscheidungen enthebt.
Es darf aber nicht übersehen werden, daß eine derartige Verfahrenserledigung, die in den Fällen.der §§ 153 Abs. 2 und 153 a StPO der Zustimmung des Angeklagten bedarf, zugleich ein Schuldeingeständnis (mit daraus resultierenden Konsequenzen, z. B. hinsichtlich Kosten und Haftung) darstellt.
Nicht erst seit kurzem ist Besorgnis aufgekommen, ob solche kompromißhafte Verfahrenserledigung mit dem traditionellen Strafrechtsdenken, ja auch mit dem Rechtsstaatsprinzip vereinbar ist. Um so mehr, als diese Praxis seit längerer Zeit von anderer unkonventioneller, aus den USA übernommener, den gesetzlichen Vorschriften der Prozeßordnung zuwiderlaufenden Verfahrenserledigung durch Absprache, besonders in großen Wirtschaftsstrafsachen, dem sog. deal, begleitet bzw. ergänzt wird.
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