»Da merkt man erst, wie krass das ist«

Ein Bielefelder Mädchenprojekt organisiert das Nachdenken gegen Ausgrenzung von jungen Migrantinnen

  • Robert B. Fishman
  • Lesedauer: 6 Min.
Rassismus begegnet Migranten aggressiv, aber auch subtil. Oft sogar im Gewand eines vermeintlich guten Rates. Solche Erfahrungen machen sensibel, aber auch empfindlich. Sie wollen verarbeitet werden und möglichst vermieden. Große Aufgaben für ein Mädchenprojekt. Wie der Mädchentreff »Girls Act« in Bielefeld eines ist.
Eigentlich ganz normal: Die Schokolade mit dem Sarotti-Mohr, eine »Negerpuppe« mit fingerdicken schwarzen Lippen und riesigen dunklen Augen, die Geschichte vom Mohren im Struwwelpeter, eine dunkle Comic-Figur, die ihre riesige Hand bedrohlich nach zwei hellhäutigen Kindern ausstreckt, die »Zehn kleinen Negerlein« oder Tim und Struppi auf Safari im Kongo: Ein Weißer am Steuer des Autos, die Einheimischen schleppen die Ausrüstung. Wer hat Angst vorm schwarzen Mann? »Mädchen mit Migrationshintergrund erkennen immer, was rassistisch ist«, versichern Güler Arapi und Sabine Lück vom Bielefelder »Girls Act - Antirassistische Mädchenprojekte«.

Das haben sie mir nicht zugetraut
Wenn zum Beispiel Fatima (Name geändert) aus ihrer Schulzeit berichtet, glaubt man sich in die Anfänge des vergangenen Jahrhunderts versetzt. Fatima ist 20. Eine selbstbewusste junge Frau mit langen dunkelblonden Haaren. Sie weiß, was sie will. Ihre Eltern stammen aus Marokko. Nach der vierten Klasse sollte sie auf die Hauptschule. Obwohl sie perfekt deutsch spricht und gute Noten hatte. Ebenso gute wie eine Deutsche, die auf die Realschule durfte. »Du schaffst das nicht«, hatte ihre Lehrerin behauptet, »Deine Mutter ist Analphabetin und dein Vater hat keine Zeit, dir zu helfen«. Doch Fatima war stark genug, ihren Weg zu gehen: Qualifizierter Hauptschulabschluss, Berufskolleg. Dann wollte sie auf das Oberstufenkolleg (OS), um dort das Abitur zu machen. Und wieder Vorbehalte: »Dazu muss man selbstständig sein«, sagten ihre Lehrer. »Das haben sie mir nicht zugetraut. Aber ich bin ein Trotzmensch«, sagt Fatima und lächelt. Jetzt steht sie kurz vor dem Abitur. Das Oberstufenkolleg, eine Versuchsschule des Landes Nordrhein-Westfalen, gibt jungen Leuten eine Chance, die woanders keine bekommen haben. Aishe (Name geändert), Tochter tunesischer Eltern, sollte auf die Sonderschule. »Weil ich größer war als die anderen und dunkler, haben mich die Kinder in der Grundschule immer geärgert und ausgegrenzt«, erinnert sich die 22-Jährige. Die Schultage wurden für das Mädchen zum Spießrutenlauf. Ihre Noten wurden immer schlechter. Schließlich wollte die Klassenlehrerin das Mädchen auf die Sonderschule schicken. Später, auf der Hauptschule, fand Aishe eine Lehrerin, die an sie glaubte und sie zum Weiterlernen ermutigte. So schaffte sie es bis zum Abitur auf dem Oberstufenkolleg. Dort arbeiten die beiden jungen Frauen im »Biografieprojekt« von Girls Act mit. Gemeinsam haben sie ihre Schulgeschichten zusammengetragen und aufgeschrieben. »Ein schmerzhafter Prozess«, erinnern sie sich. Bei vielen kamen alte Verletzungen hoch - und Wut. Wut auf ein Schulsystem, das, wie mehrere Studien inzwischen belegen , »Kinder von Migranten institutionell benachteiligt«. Oft meinen es Lehrer und Lehrerinnen gut, wenn sie Kindern von Einwanderern von Realschule oder Gymnasium abraten. In anderen Fällen wird sortiert, um freie Plätze in Haupt- und Sonderschulklassen zu füllen. So haben zum Beispiel in Kiel im Jahr 2002 nur neun Jugendliche aus ausländischen Familien das Abitur absolviert. Überdurchschnittlich viele landen nicht nur dort auf Sonder- und Hauptschulen. Angebliche oder tatsächliche Sprachprobleme sind nur eine Ursache.

Rassismus fängt bei Äußerlichkeiten an
Manche Schülerinnen haben die Vorurteile der anderen schon verinnerlicht: Güler Arapi erinnert sich an ein Mädchen, die sich selbst mit folgenden Worten beschrieb: »Ich bin Ausländerin, ich bin dumm und deshalb bin ich auf der Sonderschule«. Das meinte sie ernst. Da sind sich die beiden Pädagoginnen von Girls Act sicher. Wir lassen die Mädchen mit ihrer Verunsicherung und Betroffenheit nicht allein, versprechen Güler Arapi und Sabine Lück. Sie wollen die Mädchen stärken, ihnen Mut machen. Den »colored«, also den »Farbigen«, Menschen »nichtdeutscher Herkunft«, genauso wie den Kindern deutscher Abstammung. Mit vielen subtilen Benachteiligungen im Alltag sind jedoch nur erstere konfrontiert. Seit dem 11.September 2001 wird Fatima an Flughäfen und auf der Straße strenger kontrolliert. Wenn sie ihren Ausweis nicht dabei hat, muss sie mit auf die Wache. Als einzige, während ihre Freundinnen ratlos zurückbleiben. Girls Act will »alle Mädchen, unabhängig von ihrer Herkunft, stärken«. Wer an sich selbst glaubt, hat es nicht nötig, auf andere herabzublicken. »Wir müssen aufhören, die einen als Täter zu sehen und die anderen als Opfer«, so Güler Arapi und Sabine Lück. Rassismus, resümiert Sabine Lück, fängt schon da an, wo man die Menschen nach Äußerlichkeiten unterscheidet und dann in Schubladen steckt. Die beiden Pädagoginnen fragen nach, bitten die Mädchen, ihre Wünsche zu äußern und aufzuschreiben. So entstand das Plakat »Ich will respektiert werden«, das »Girls Act« in Bielefelder Straßenbahnstationen und auf Litfaßsäulen kleben ließ. In Workshops probieren die Teilnehmerinnen Handlungsmöglichkeiten aus. Was kann ich tun, wenn jemand in der Straßenbahn ein Mädchen anpöbelt, weil sie ein Kopftuch trägt? In Theater- und Rollenspielen üben die Mädchen mögliche Reaktionen. Manchmal inszenieren sie unangenehme Begegnungen in der Stadt selbst und testen die Reaktionen der Passanten. Die Vorlagen liefert das »unsichtbare Theater« nach Augusto Boal. In Zukunftswerkstätten benennen die Teilnehmerinnen, was sie quält. Ein erster Schritt zur Veränderung. In der Fantasiephase entwickeln sie Bausteine einer Welt ohne Rassismus. In Rap- und Capoeira-Tanzworkshops beschäftigen sie sich künstlerisch mit dem Thema. »Wir bieten an, was den Mädchen auch Spaß macht«, erklärt Sabine Lück. Zu einem »Anti-Rassismus-Workshop« würde sich keine anmelden.

Lehrer tun sich schwer mit dem Dazulernen
Die Fortbildungen, die Girls Act inzwischen auch für »Multiplikatorinnen« anbietet, sind ausgebucht. Allerdings melden sich nur sehr wenige Lehrerinnen und Lehrer an. Sabine Lück vermutet dahinter eine Abwehrhaltung vieler Lehrkräfte. »Rassismus gibt es nur bei den anderen«, dächten viele Pädagogen. Wenn sie zur Fortbildung kommen, haben sie sich ja schon eingestanden, dass auch sie etwas damit zu tun haben. Und das fällt den meisten schwer, weil »das mit Schuldgefühlen zu tun hat, vor allem in Deutschland, wegen der Geschichte«. In der Ausbildung der Lehrerinnen und Lehrer kommt das Thema bisher noch kaum vor. »Antirassismus muss in den Schulen als Querschnittsaufgabe verankert werden«, fordern die beiden Girls Act-Leiterinnen. Der Bielefelder Mädchentreff findet mit seinen Anti-Rassismus-Projekten inzwischen bundesweit Beachtung. An der Wand hängen Urkunden von SOS Rassismus, vom Familienministerium und anderen Institutionen. Besonders die Ausstellung mit ganz alltäglichen Darstellungen dunkelhäutiger Menschen regt viele zum Nachdenken an. Oder wie es eine Besucherin der Ausstellung formulierte: »Jetzt, wo hier so viele Sachen liegen, wo Schwarze immer auf die gleiche Art dargestellt werden, so mit den Lippen und den großen Augen - da merkt man erst, wie krass das eigentlich ist.«

Weitere Informationen: (www.maedchentreff-bielefeld.de)

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