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Bedrohtes Naturerbe: Die letzte Kur am Kujalnyk
Die Salzlagune vor den Toren Odessas ist eine traditionsreiche Heilstätte – und steht nun vor dem Untergang
Rötlich schimmert die Oberfläche des Meeres in einer Bucht des Schwarzen Meeres, nur etwa 18 Kilometer vom Hauptbahnhof von Odessa entfernt. Genau genommen handelt es sich dabei um einen Liman – eine Lagune, die nur teilweise vom Meer abgetrennt ist. Wer das stellenweise matschige Ufer betritt, sollte besser Sandalen tragen: Der Boden ist übersät mit kleinen Salzkristallen, die das Gehen barfuß erschweren. Immer wieder glitzern größere Kristalle, die aus der Ferne wie weiße Korallen wirken.
Für die Einwohner Odessas ist dieser Liman, der unter dem Namen Kujalnyk bekannt ist, ein beliebtes Erholungsgebiet. In dem flachen Salzsee, dessen Salzgehalt dem des Toten Meeres ähnelt, kann man nicht nur baden, sondern auch die bizarren Kristallformationen bestaunen, die sich an den Pfählen im Wasser absetzen. Doch diese Pfähle ragen mittlerweile immer höher aus dem verschwindenden Wasser. Besonders im August und September zieht der Kujalnyk viele Besucher an, die sich vor der rötlich schimmernden Wasseroberfläche fotografieren lassen.
Die ungewöhnliche Färbung hat natürliche Ursachen. Hauptverantwortlich ist die Mikroalge Dunaliella salina, die in stark salzhaltigem Wasser lebt und große Mengen des orange-roten Pigments Beta-Carotin bildet, um sich vor intensiver Sonneneinstrahlung zu schützen. Auch salzliebende Bakterien tragen mit ihren rötlichen Pigmenten zur Farbintensität bei. Da der Liman zunehmend austrocknet und die Salzkonzentration steigt, finden diese Organismen ideale Bedingungen – und das Wasser leuchtet in immer kräftigeren Rottönen. Es ist eine trügerische Schönheit: Das intensive Rot signalisiert nicht Leben, sondern den schleichenden Tod des Ökosystems.
Der Kujalnyk ist die Seele der Stadt Odessa. Doch nicht nur Odessiten lieben den Ort. Seit Anfang des 19. Jahrhunderts befindet sich dort ein Heilbad, in dessen Sanatorien sich einst bis zu 8000 Menschen gleichzeitig erholten – oft nahmen sie eine weite Reise auf sich. Sogar der russische Zar soll den Kujalnyk aufgesucht haben. Die Gäste ließen sich mit »Rapa« behandeln – einer stark salzhaltigen Sole, die oft in Verbindung mit Heilschlamm angewendet wird, um Erkrankungen zu lindern.
Im Internet wirbt das Sanatorium Kujalnyk mit seiner fast 200-jährigen medizinischen Tradition. Bis ins 16. Jahrhundert reicht hingegen die Salzgewinnung zurück – mit einer Jahresproduktion von bis zu 100 000 Tonnen. »Schon damals war der Ort wirtschaftlich bedeutend«, erklärt Oleh Derkatsch, stellvertretender Direktor des 2022 zum Naturpark erklärten Gebiets, im Gespräch mit »nd«.
Kurort im Niedergang
Doch der Kujalnyk scheint seinem Ende entgegenzugehen. Was einst ein belebter Kurort war, ist heute nur noch ein Schatten seiner selbst. Viele Sanatorien stehen leer und sind einsturzgefährdet; in ihren verfallenen Räumen hausen streunende Hunde. Auf den Spielplätzen quietschen keine Schaukeln mehr. Der Niedergang begann in den 1980er Jahren, als der Wasserspiegel zu sinken begann. Der Zufluss des Veliki Kujalnyk wurde zunehmend durch Müll verstopft. Zwar gelangt weiterhin salzhaltiges Meerwasser in die Lagune, doch wegen der ausbleibenden Niederschläge und des schwindenden Süßwasserzuflusses steigt der Salzgehalt stetig an – und mit ihm greift das Sterben des Limas um sich.
Wer heute den Kujalnyk besucht, findet dort, wo früher der kleine Hafen lag, nur noch Reifenspuren im Schlamm. Wo früher Wasser war, bleibt trockener Boden – teilweise sogar befahrbar mit Autos. Manche sind im Morast stecken geblieben und stehen nun als Relikte gescheiterter Ausflüge da. Ein findiger Unternehmer hat aus dieser Misere ein Geschäft gemacht: Mit einem langen Abschleppseil rückt er jedes Mal an, wenn wieder ein Wagen feststeckt. Seine Hilfe hat ihren Preis – je teurer das Auto, desto höher die Summe, die er für die Rettung verlangt.
Mit dem Einbrechen der Wasserzufuhr verschlechtert sich der Zustand des Ökosystems rapide. Derkatsch warnt: »Die meisten Zuflüsse sind versiegt, und auch die Verbindung zum Meer ist unterbrochen. Ohne gezielte Gegenmaßnahmen wird der Kujalnyk unwiederbringlich verloren gehen.«
Eine Option, die derzeit geprüft wird, ist die kontrollierte Einleitung von Meerwasser. Ein entsprechendes Bauwerk existiert bereits. Doch die Idee ist umstritten: Kritiker fürchten, dass die Meerwasserzufuhr die Versalzung weiter verschärft und damit Flora, Fauna und den Kurort selbst gefährdet. Derkatsch hält dagegen: »Ohne Wasser droht die vollständige Austrocknung. Die Heilschlämme würden oxidieren und unbrauchbar. Staubstürme, Bodenversalzung und der Verlust des Ökosystems wären die Folge.« Theoretisch könnte auch Wasser aus dem weiter westlich gelegenen Dnistr-Flusssystem umgeleitet werden – doch hier droht Widerstand durch die lokale Bevölkerung.
Politischer Stillstand
Derkatsch macht keinen Hehl aus seiner Frustration: »Wir sind ein Nationalpark, keine Behörde für Wasserwirtschaft oder Salzproduktion.« Die Probleme seien struktureller Natur – und die Politik habe sich im Krieg weitgehend verabschiedet. »Das Umweltministerium wurde de facto abgeschafft, in das Wirtschaftsministerium eingegliedert. Es fehlt an politischem Willen.« Sein Vertrauen in die ukrainische Verwaltung ist erschüttert.
Ein Ausweg könnte über die Europäische Union führen. Der Naturpark bewirbt sich derzeit um Mittel aus EU-Programmen wie »Life« oder »Horizon«. Diese könnten bis zu 60 Prozent der Kosten decken – doch ohne Kofinanzierung durch Staat oder Region können sie nicht beantragt werden. »Wir brauchen Partner aus der EU, die Erfahrung mit ökologischen Großprojekten haben«, sagt Derkatsch.
Während der stellvertretende Parkdirektor auf politische und finanzielle Unterstützung hofft, setzt eine andere Stimme auf öffentliches Engagement. Die über Odessa hinaus bekannte Schriftstellerin, Malerin und Konzertmanagerin Rita Kolobowa kämpft unermüdlich für den Erhalt des Kujalnyk, spricht Politiker an, schreibt Briefe und veröffentlicht Videos.
1833 kam der Arzt Erast Stepanowytsch Andrijewskij nach Odessa und erkannte das Potenzial des Kujalnyk. Schon bald entstanden erste Kliniken, Kurhäuser und Badeanstalten. Im Laufe der Zeit kamen ein Krankenhaus, luxuriöse Bäder, Parks und weitere Gebäude hinzu – ebenso eine Zugverbindung, die Kurgäste aus der Ferne brachte.
Obwohl viele Sanatorien des Kujalnyk mittlerweile zunehmend verfallen, werden dort noch immer jedes Jahr Tausende Patientinnen und Patienten behandelt. Berühmt sind die Heilstätten für ihre sogenannte Rapa – eine stark salzhaltige Sole mit einem rund zehnmal höheren Salzgehalt als Meerwasser, reich an Mineralstoffen wie Natrium, Kalium, Magnesium, Kalzium und Brom. Medizinisch wird die »Rapa« in Form von Bädern zur Behandlung von Haut-, Gelenk- und Nervenerkrankungen eingesetzt, oft in Kombination mit Heilschlamm aus dem Liman. Die Anwendungen fördern Regeneration und Linderung bei Rheuma, Arthritis, Hautproblemen, Erkrankungen des Bewegungsapparats, Herz-Kreislauf-Störungen und chronischen Entzündungen. Bcl
»Die Bedeutung des Kujalnyk geht weit über Odessa hinaus«, erzählt Kolobowa dem »nd«. »Er ist für mich eines der kostbarsten und schönsten Wunder, die die Ukraine besitzt. Aber für mich ist er noch mehr: Meine Vorfahren, die Familie Kapischewskij, sind lange vor der Oktoberrevolution wegen des Kujalnyk nach Odessa gekommen. Sie kamen des Salzes wegen, verdienten gut mit dem Abbau – und bauten am Ufer des Kujalnyk ein Kurhaus. Leider wurde es während der Oktoberrevolution zerstört.«
Ihr Engagement steht für viele Menschen in Odessa, die sich für den Erhalt der Lagune einsetzen, weil der Ort Teil ihrer eigenen Geschichte ist. Aber trotzdem verschlechtert sich der Zustand des Limans dramatisch. Im Sommer 2025 wurden Salzkonzentrationen von über 300 Gramm pro Liter gemessen – viele Mikroorganismen können dort nicht mehr leben. Frühere Idealwerte lagen zwischen 180 und 250 Gramm pro Liter. »Die in den Schlammbädern eingesetzten Peloide verlieren ihre Heilkraft, die Schlammbildung ist gestört«, warnt Derkatsch.
Inzwischen fehlen Millionen Kubikmeter Wasser. Derkatsch rechnet mit einem Bedarf von mindestens 40 Millionen Kubikmetern jährlich – derzeit steht nicht einmal ein Viertel davon zur Verfügung. Technische Lösungen wie Entsalzungsanlagen oder ein Reversierungssystem wären teuer und komplex – aber möglicherweise alternativlos.
Ein möglicher Beitrag zum Erhalt des empfindlichen Ökosystems wäre die gezielte Senkung des Salzgehalts, etwa durch solarbetriebene Entsalzungsanlagen. Auch eine Wiederaufnahme der längst eingestellten Salzgewinnung wird geprüft. Doch die Qualität des Salzes bereitet Probleme. »Zu bitter, zu magnesiumreich für den Lebensmittelmarkt«, sagt Derkatsch. »Für kosmetische Zwecke gut geeignet – aber wer braucht schon 100 000 Tonnen Badesalz im Jahr?« Selbst als Streusalz taugt es nicht: zu grobkörnig, zu instabil.
Doch selbst diese Ansätze bleiben vorerst theoretisch. Noch ist völlig unklar, wie das brackige Ökosystem gerettet werden kann – ein System, das zugleich Teil der ukrainischen Geschichte, Erholungsraum, Wirtschaftsfaktor und kulturelles Gedächtnis ist. Eine grundlegende Entscheidung steht aus: Soll der Kujalnyk künftig als salzhaltiger Meeresarm bestehen oder in seiner einstigen Form wiederhergestellt werden? Es ist nicht nur eine technische, sondern auch eine politische und gesellschaftliche Frage. »Wir müssen jetzt handeln«, mahnt Derkatsch. Die Zeit läuft davon. Das Wasser leuchtet intensiver rot als je zuvor.
»Die meisten Zuflüsse sind versiegt, und auch die Verbindung zum Meer ist unterbrochen. Ohne gezielte Gegenmaßnahmen wird der Kujalnyk unwiederbringlich verloren gehen.«
Oleh Derkatsch Stellvertretender Direktor des Naturparks Kujalnyk
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