- Kultur
- „Vater“ von CARL FRIEDMANN
„Ich habe Lager
Wenige Zeilen genügen der niederländischen Schriftstellerin Carl Friedmann, um das kleine Glück einer Familie zu schildern, über dem der Schatten der Vergangenheit liegt: „Es ist Samstag. Wir sitzen beim Frühstück. Vater ißt morgens nie etwas, hat aber genug zu tun. Er trinkt Kaffee, raucht Zigaretten und erzählt Geschichten.“ Die Kinder hören zu, wie er sagt: „–Ich habe Lager', als ob der Zustand noch andauere. Und eigentlich ist es auch so...“
Friedmanns Erzählung „Vater“, mit großem Einfühlungsvermögen aus der Perspektive heranwachsender Kinder geschrieben, spielt in den fünfziger Jahren in einer niederländischen Kleinstadt. Während des Essens erklärt Jochel, der Vater, seinem Sohn Max, was Hunger ist: „Wenn du wirklich Hunger hast, dann heißt das nicht mehr knurren, sondern nagen. Wir hatten Arbeitstage, die dauerten zwölf Stunden und länger, und alles, was wir bekamen, war Rübensuppe und ein Stück Brot. Daß wir uns im Lager zu Tode schuften durften, statt ermordet zu werden, galt als Vorrecht. Wenn sich die SSler im Lager langweilten, rissen sie einem x-beliebigen Gefangenen die Mütze vom Kopf und warfen sie hoch in den Stacheldraht. –Geh und hol deine Mütze', riefen sie dann, –o der du kriegst eine Kugel in den Rücken.'“
Jochel leidet unter Angstträumen. Nachts geistert er unruhig im Haus umher. Bedrängt von den naiven wie wißbegierigen Fragen der Kinder, wird Jochel zum Geschichtenerzähler der Familie, der er bisweilen viel zumutet. Aber vielleicht ist es nur so
Carl Friedmann: Vater Erzählung. Aus dem Niederländischen von Marlene Müller-Haas. Ammann Verlag Zürich. 120 S., geb., 32 DM.
möglich, das Unbegreifliche verstehen zu lernen: „Entkommen war so gut wie unmöglich. Wem es dennoch gelang, der kam meist nicht weit. Die Hunde nahmen seine Spur auf, und nach seiner Rückkehr ins Lager wartete der Strick auf ihn. Manchmal setzten die SSler den Leichnam des Flüchtlings spaßeshalber auf einen Stuhl und hängten ihm ein Schild um den Hals: Ich bin wieder da.“
Wie nachhaltig die Erzählungen des Vaters auf die Kinder wirken, zeigt die Autorin in einem kleinen Dialog. „–Was willst du denn später werden', fragt die Lehrerin. –Unsichtbar' , antworte ich, –dann kann mich die SS nicht fangen.'“
Das Ende der Geschichte führt in die brandaktuelle Gegenwart, wenn Jochel die Zeitung liest und entsetzt erfahren muß: „Sie behaupten, in den Lagern sei niemand umgebracht worden. Sie berufen Versammlungen ein und reißen den Mund wieder weit auf. Sie werden durch die gleiche Meinungsfreiheit geschützt, die sie uns möglichst schnell rauben wollen...“
Das letzte Wort gebührt der Autorin Carl Friedmann: „Als ich jung war, wollte ich mich für das, was mein Vater erleben mußte, rächen. Aber was ist Rache? Man kann sich nicht rächen, man darf sich nicht rächen. Unfreiheit könnte man mit Freiheit beantworten. Und Lieblosigkeit? Mit Liebe, denke ich.“
Wir sind käuflich. Aber nur für unsere Leser*innen.
Die »nd.Genossenschaft« gehört ihren Leser:innen und Autor:innen. Sie sind es, die durch ihren Beitrag unseren Journalismus für alle zugänglich machen: Hinter uns steht kein Medienkonzern, kein großer Anzeigenkunde und auch kein Milliardär.
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ unabhängig und kritisch berichten
→ übersehene Themen aufgreifen
→ marginalisierten Stimmen Raum geben
→ Falschinformationen etwas entgegensetzen
→ linke Debatten voranbringen
Mit »Freiwillig zahlen« machen Sie mit. Sie tragen dazu bei, dass diese Zeitung eine Zukunft hat. Damit nd.bleibt.