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Erhalten vietnamesische Kinder Kindergeld?

Arbeitsamt strich die Leistung für die beiden Söhne von Lan / BerlinerSozialgericht entscheidet Von MARINA MAI

  • Lesedauer: 3 Min.

„Haben auch ehemalige vietnamesische Vertragsarbeiterinnen ein Recht auf Kindergeld?“ fragte eine Zuschauerin bei der „Vorwahl-Potsdam“-Sendung des ORB am 29. August. Die geladene Expertin von der Bundesanstalt für Arbeit vermochte diese „sehr spezielle“ Frage nicht zu beantworten. So speziell scheint diese Frage zu sein, daß sich am 13. September die 66. Kammer des Sozialgerichts Berlin in der Invalidenstraße 52 (Tiergarten) mit ihr beschäftigt.

Konkret ist diese Frage für die Vietnamesin Lan, die mit Mann und zwei Söhnen in einer Berliner Neubauwohnung wohnt. Seit April erhält sie kein Kindergeld mehr Das zuständige Arbeitsamt beruft sich auf eine Änderung des Bundeskindergeldgesetzes von 1993, das den Bezug von Kindergeld bei Ausländerinnen an den Besitz einer Aufenthaltserlaubnis oder -berechtigung koppelt. Als ehemalige Vertragsarbeiterin verfügt Lan jedoch nur über eine

Aufenthaltsbefugnis. Wie ihr geht es der Mehrheit ihrer Landsleute in Deutschland. Die Innenministerkonferenz gestand ihnen (bis auf wenige Ausnahmen) nur eine Befugnis oder Bewilligung zu, wenn sie nicht nur geduldet werden. Das bedeutet kein Kindergeld. Das gilt auch für Angehörige anderer nationaler Minderheiten.

Lans Mann arbeitet in einer Reinigungsfirma. Sein Gehalt ist der Lebensunterhalt der Familie. Die Aufenthaltsbefugnis

berechtigt Lan auch nicht zum Bezug von Erziehungsgeld für den neun Monate alten Sohn Dat. Leistungen vom Arbeitsamt erhält sie nicht, weil sie mit Kleinkind nicht vermittelbar ist. Da sind 140 DM Kindergeld viel Geld für Lan. Mit einem Antrag auf Sozialhilfe würde Lan ihre Abschiebung riskieren.

Kinderhosen sind aber nicht billiger, weil der Träger Vietnamese oder Bosnier ist. Und so hat das Sozialgericht Berlin darüber zu entscheiden, ob Kindergeld eine Sozialleistung für alle oder ein Privileg für deutsche Staatsbürger und eine Teilgruppe von Ausländern ist. Kindergeld wird aus Steuermitteln finanziert. Auch Ausländer zahlen in diesen Topf.

Wahrlich kann Deutschland nicht auf würdige Traditionen

zurückschauen, was die Teilhabe von NichtStaatsbürgern an der Sozialpolitik betrifft. In der Weimarer Republik lebende Ausländer konnten ebensowenig von Ehestandsdarlehen profitieren wie Vertragsarbeiterinnen in der DDR ein Recht auf Kindergeld hatten - sofern sie nicht überhaupt während der Schwangerschaft ausgewiesen wurden.

Während der Zeit des Faschismus konnten Jüdinnen, „Gemeinschaftsfremde“, Fremdarbeiterinnen und andere den NS-Rassenideologen unerwünschte Menschengruppen nicht an KdF-Leistungen teilhaben, hatten auch keinen Anspruch auf Schwangerenhilfe und Kinderbeihilfe. Dabei war die soziale Ausgrenzung nur Auftakt und Teil der realen Ausgrenzung aus dem Leben

in Form von Zwangssterilisierung, Euthanasie, Zwangsarbeit, „Umsiedlung“ und Vernichtung.

Das Sozialgericht Berlin wird am Dienstag zu entscheiden haben, ob die Praxis der Arbeitsämter, die vielen Ausländerinnen das Kindergeld entzieht, Bestand hat. Die Verhandlung ist öffentlich. Öffentlichkeit wäre ihr zu wünschen, denn der Entzug von Kindergeld war bisher weder Thema der politischen Parteien noch Gegenstand breiter öffentlicher Diskussionen. So bemerkte die eingangs erwähnte Expertin der Bundesanstalt für Arbeit im ORB nicht, daß sie sich widersprach, als sie auf eine andere Zuschauerfrage antwortete: „Ja, alle Eltern haben einen Anspruch auf Kindergeld.“

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