Gustl brachte alle auf die Beine

In Kliebensteins Etablissement drehten sich die Hühner im Fenster

  • Tom Mustroph
  • Lesedauer: 5 Min.
Mit unserer Serie gehen wir ein Jahr lang immer mittwochs auf Zeitreise in den Alltag von 1989. Kleine wie große Ereignisse in der damals noch geteilten Stadt werden eine Rolle spielen. An die Atmosphäre im Wendejahr wollen wir erinnern und an Courage. Verschwundene Orte tauchen wieder auf. Von anderen wird erzählt, die erst 1989 entstanden. Auch Zeitzeugen kommen zu Wort. So soll sich übers Jahr ein Porträt unserer Stadt über die spannende Zeit vor 15 Jahren fügen.
Komm, lass uns nackte Weiber gucken, sagten sich jahrzehntelang Friedrichshainer Bengels. Sie meinten nicht die »Funzel«, die in Jungenaugen heiße letzte Seite des »Eulenspiegel«. Sie konnten nicht Beate-Uhse-Läden meinen, die gab es erst später. Fiel der Spruch mit den »nackten Weibern« im Umkreis der Warschauer Straße, so konnte es sich nur um die Kneipe Hühner-Gustl in der Grünberger Straße 6 handeln. Hier im Schaufenster drehten sich gänzlich ihres (Feder) Kleids beraubte Hühner auf der Stange, bis ihre Haut goldbraun und ihr Fleisch zart wurde. Vor dem Schaufenster standen die Bengels und kicherten. Laurenz Demps, 1989 wie auch jetzt Historiker an der Humboldt-Universität, wurde von Hühner-Gustl nicht wegen der Brathähnchen angezogen. Die andere Spezialität vom Wirt August Kliebenstein, das Eisbein, war der Grund. »Eisbein ist mein Leibgericht«, bekennt Demps. Hühner-Gustl konnte es machen wie kein anderer. Nur einmal habe Demps ein besseres Eisbein gegessen. In einem Landgasthof in Brandenburg, den es schon längst nicht mehr gibt. Und einmal ein annähernd so gutes. Das war bei Hardtke in der Fasanenstraße. Auch dieses Etablissement existiert nicht mehr, genauso wenig wie Hühner-Gustl. Ein kulinarischer Verlust. Was Kliebensteins Rezeptur ausmachte, das weiß Demps bis heute nicht. Beeindruckend sei bereits die Technologie gewesen. »30 Haxen schmorten in einem Topf«, schwelgt der Eisbein-Liebhaber in Erinnerungen. Die Schweinebeine gaben sich beim ersten Kochen gegenseitig Aroma ab. Dann kühlten sie ab, der Wirt ließ das Fett aus und warf die Eisbeine erneut in den Topf. Vielmehr taten das seine Köchinnen. Fünf oder sechs Frauen hat Demps in der Küche arbeiten sehen. Noch einmal so viele Kellner waren im Schankraum, dem angrenzenden Berliner Zimmer und dem Separee unterwegs. »Meist waren das Akademiker«, fällt Demps ein. Die hätten bei Gustl mehr als das Doppelte verdient als in ihren angestammten Berufen. »Je höher qualifiziert man in der DDR war, desto weniger Gehalt hat man bekommen«, fasst der habilitierte Historiker den Zusammenhang von Geist und Geld zusammen. Hühner-Gustl jedenfalls wurde Millionär. Ob wegen der Eisbeine oder der Hähnchen, die der ingeniöse Wirt bereits Anfang der 60er Jahre beim Großhandel aufkaufte und dann unter Hitze und freiem Blick rotieren ließ, oder vielleicht wegen der Oldtimer-Sammlung, die er sein Eigen nannte und der DEFA oft als Requisit auslieh - darüber streitet die Nachwelt. Tatsache ist, dass er die Kneipe, die 1936 von seinen Eltern unter dem Namen »Zum kühlen Trunk« eröffnet wurde, mit - wie man heute sagt - »Alleinstellungsmerkmalen« versah und sie aus der grauen Masse der Trinkstuben heraushob. Zum einen stellte er alte Bierkrüge, Mollen aus Glas und Mostrichspender aus Steingut aus den Zeiten der Eltern auf. Zum anderen baute er das Separee zu einem Kuriositätenkabinett um. Ein Phonograph, ein Leierkasten, eine Spieluhr, ein sich drehender und Weihnachtslieder ausspuckender Weihnachtsbaum und als Prunkstück ein 110 Jahre altes Orchestrion zitierten die Gemütlichkeit vergangener Epochen. Dieses Separee war geschlos- senen Gesellschaften vorbehalten. Brigaden feierten hier, die Drucker von »Tribüne« und »Neues Deutschland« zum Beispiel. Vereine, etwa die Friedrichshainer Ortsgruppe der Amateurfunker, trafen sich regelmäßig. Der Arbeitskreis »Arbeiterkultur« der Humboldt-Universität machte einen Praxistest und gründete bei Hühner-Gustl einen »Ring-Verein«. Die Kulturwissenschaftler um Dietrich Mühlberg nahmen ironisch die Tradition der Verbrechersyndikate des Berlins der 20er Jahre auf. Allmonatlich testeten sie Bier, Brathähnchen und Eisbein. Sie erfanden hier den Arbeiterveteran Wilhelm Grubnow und führten ihn als zitierfähige Quelle ins akademische Schriftgut ein. August Kliebenstein habe sich gern mit »seinen« Professoren geschmückt, berichtet Mühlberg. »Wir wussten all die historischen Einrichtungsstücke, die der Wirt zusammengetragen hatte, zu schätzen. Das wiederum schätzte er.« Einen intellektuellen Diskurs habe man aber nicht geführt. Auch keinen politischen. »Sauf dich voll und friss dich dick, doch halt dein Maul zur Politik!«, sei Hühner-Gustls Wahlspruch gewesen. Der mag es erlaubt haben, dass Arbeiter und Akademiker, Kampftrinker und Schöngeister es nebeneinander ausgehalten haben. Selbst so unterschiedliche Gäste wie Günther Schabowski und Wolfgang Thierse suchten das Lokal auf, wenn auch nicht am selben Tag. August Kliebenstein starb kurz nach dem Mauerfall, nach einer Reise nach Frankfurt am Main. Den Westen hat er gesehen, dann ging er dahin. »Die Institution Hühner-Gustl war eine Nische«, ist Demps überzeugt. Sie gedieh mit und in der DDR; und sie löste sich mit ihr auf. Die Witwe Beate Kliebenstein führte das Lokal noch einige Jahre weiter. Stammgäste kamen nach Ausflügen in die gastronomische Welt Westberlins in die Grünberger Straße 6 zurück. Doch es ist nie mehr geworden wie früher. Die rechte Jugendszene, beziehungsweise jene Subkultur, die rechts erscheint, weil sie keine Haare am Schädel, Doc Martens an den Füßen und ein Bier in Reichweite hatte, eroberte zeitweise die Hoheit am Tresen. Jetzt ist das Haus in der Grünberger Straße rekonstruiert. Es ist gelb getüncht. Neue Fenster und eine Glastür sind da, wo es einst zu Hühner-Gustl hineinging. Drinnen ein einsamer Schreibtisch mit Computer. Die Jägerklause schräg gegenüber, einst ein großzügig eingerichteter Konkurrent von Hühner-Gustl, ist ebenfalls geschlossen. Mobiliar, Speisekarte und Schriftzug künden noch von der einstmaligen Existenz. Nächste Folge: Die Umweltbibliothek

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