- Kultur
- „Wohnen Dämmern Lügen“ von BOTHO STRAUSS
Stillstand, Ewigkeit
mals, in „den frischen Jahren , alles „so heiter begonnen“, hat man da nicht „so ganz anders zusammengelebt“? „Mein Gott, wie glücklich waren wir damals über unsere ersten Erfolge... damals waren wir ungeheuer mutig, und noch verliebt. Sehr sogar. Und gescheit. Und schön“, erinnert sich Stella, die von ihrem Mann verlassen wurde. Ein Bildhauer hatte damals Riesenfiguren aus dem Stein geschlagen, „die keiner haben wollte“ Dann hatte er sich sein Auskommen als technischer Zeichner gesucht, aber als die Computer seinen Arbeitsplatz bedrohen, erinnert er sich an seine zertrümmerten „Mordskerle“ Er fühlt sich schuldig, etwas Wichtiges aus der Welt geschafft zu haben. „Ja, es ist im Grunde schiefgelaufen, das Ganze.“ Was bringt uns dazu, die Träume der Jugend zu vergessen?
Der Autor deutet gesellschaftliche Umstände, soziale Zwänge und persönliche Entscheidungen an. Die konkrete Geschichte wirkt stärker als die in „Beginnlosigkeit“ dargelegte Theorie über den Selbstbetrug mit dem Damals, die Vergoldung des Vergangenen, über
Botho Strauß: Wohnen Dämmern Lügen. Carl Hanser Verlag München. 203 S., geb., 34 DM.
das Urvermissen und das mythische Einstweh. Mit dem Dunkel, der Vorzeit, „der Phantasie des Verlusts“ befaßte sich Botho Strauß zwischen „Beginnlosigkeit“ und „Wohnen Dämmern Lügen“ auch 1993 in seinem provozierenden Essay „Anschwellender Bocksgesang“ Die Wogen der anschließenden Diskussion (u.a. mit Ignatz Bubis) schlugen hoch und fast über dem einstigen Kultautor zusammen. Kein Wunder, seine intellektuell elitären Äußerungen erscheinen unter politischen Aspekten mißverständlich rechtskonservativ Ich verstehe sie als ein prätentiöses Zeichen für Orientierungslosigkeit, Desillusionierung und Werteverlust in der Gegenwart, als resignierende Suche nach Halt in der „Tiefenerinnerung“ statt in Zukunftsverheißungen.
„Epochenbruch und Ärasturz, nun, wir haben uns erschöpft in geschichtstrunkenem Bewußtsein. Jetzt muß man wieder, der Künstler zuerst, zur Tagesordnung des
Ewigen übergehen“, erklärt der Redner in dem mit Bildung überladenen Monolog „Wettlauf und Redezeit“. Die unter der Oberfläche von Geschichte und Moral verborgene ewige Natur dringt in „Brocken aus Urzeit, Unzeit, blutiger Frühe“ zutage. Eine Frau treibt es als kannibalisches Monster umher. Ein Mann wird aus seiner bürgerlichen Welt auf ihren „magischen Pfad“ gebannt. In einer „Urflutszene“ erscheint am tobenden Meer eine Frau, die zwanghaft einen animalischen Urlaut hervorstößt, den schrillen Paarungsruf der Möwe, an den sie gefesselt ist, „ewig unerlöst zwischen Tierund Menschenwelt“ In diesen Geschichten herrscht ein solches Ewigkeitspathos, daß ich mir nicht sicher bin, ob das tatsächlich ernst gemeint ist...
Ein „uraltes tierisches Relikt“ bricht hervor in einer vom Schrecken ergriffenen Menschenmenge, deren Flucht sich nun als „chaotisches Getrampel“ einer Tierherde vollzieht. Wie dünn ist die Zivilisationsschicht? Wie belastbar sind die Beziehungen zwischen Mann und Frau, Vater, Mutter, Kind? Die meisten Menschen in diesen Texten sehnen sich nach
Nähe und haben Angst davor, können sie nicht geben und nicht halten. Doch über dem Dunkel und der in allen Schattierungen verwendeten Farbe Grau - grau der Hut, die Haut, das Herz - leuchtet ein besonderes Licht: das Kind. Zwar sind Kinder geprägt vom Leid, vom Unverständnis oder vom Egoismus der Erwachsenen, aber sie machen auch glücklich, stabiler und widerstandsfähiger, sind schön, licht und froh, werden geliebt und geben Hoffnung.
„Ein Kind hat für mich in erster Linie mit Zukunft zu tun. Mit einer Zukunft, in der man leben kann, mit dem ersten Morgenlicht, mit der weißen Zeit.“ Für sich und ihr noch ungeborenes Kind behauptet Myriam, selbst fast noch ein Kind, ihren Traum von einer Zukunft ohne Krieg und Angst und Zwang, ihren Entschluß zu einem stolzen, freien Leben gegenüber ihrem älteren Liebhaber, der seine „Herzensleere“ vor ihr verbergen will. Wie die Eisenbahn und die Riesen erinnert mich Myrijams Zuversicht an Tschechows Kirschgarten - an Anjas Glücksvision, deren reale Chance Strauß schon 1970 bezweifelte, als es noch Fahrpläne gab. Vielleicht ist es eine verzweifelte Hoffnung wie bei Tschechow, womöglich auch eine besondere Zuneigung zu Mädchen namens Myriam - ich wünschte, sie würde es schaffen.
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