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Meister des Zinns

  • Lesedauer: 2 Min.

Kann sich ein Bayer in Berlin wohlfühlen? Gerhard Jungwirth meint, ja. Seit 32 Jahren lebt er hier und hat dazu einen interessanten Beruf: Zinngießermeister. Ehefrau Rosalie verkauft in der Zinnstube am S-Bahnhof Waidmannslust, was der unermüdliche Mann im Hinterstübchen produziert. Gar nicht lange wird es dauern, dann kehrt Tochter Sonja mit dem Meisterbrief in der Tasche München den Rükken und wird den Eltern fleißig zur Seite stehen.

Doch der Meister zieht die Stirn in Falten. Er habe es nicht leicht gegen die Konkurrenz der Industrie, und die Handwerkskammer unterstütze ihn leider zu wenig, obwohl ihr der Erhalt eines seltenen Kunsthandwerks am Herzen liegen müßte. Obendrein sinke die Kaufkraft der Bevölkerung, und so mancher Kunde von früher bleibe weg.

Trotz allem kann der Meister auch stolz sein. Für das Inventar des Schlosses Charlottenburg fertigte er Beschläge, für das Bröhan-Museum diverse Restaurierungsarbeiten, und wer mal auf der Handwerksmesse in München war, fand auch dort den Namen Jungwirth. Die größte Anerkennung aber war für ihn, daß er zur Weltausstellung 1993 in Taipeh, der Metropole Taiwans, zusammen mit zwei anderen deutschen Meistern Exponate schicken durfte. Seine Meisterstücke - ein Schachspiel, eine Jugendstillampe und eine deutsche Bauernuhr - wurden mit einer Ehrenurkunde honoriert.

Für seine Kunden stellt Gerhard Jungwirth vor allem Gebrauchsgegenstände her Die Palette reicht von Haushaltsgeschirr _ bis_ hin_ _zu “ScfireibtiscKgarnitüreh, -Schrankbeschlägen, und.anderen Kunstgegenständen. Zinnsoldaten findet man allerdings nicht bei ihm. Er verurteilt jede Art militäri-

schen Engagements, hat selbst auch keinen Wehrdienst geleistet.

In seinen bescheidenen vier Wänden in Waidmannslust stapeln sich Postpakete: Reparaturaufträge von Kunden. Da bittet einer, einen zerbrochenen Altarleuchter wiederherzustellen, ein anderer schickt einen Teller, aus dem ein Stück ausgebrochen ist, ein dritter möchte 4711-Fläschchen aus Zinn (nicht für den Gebrauch, sondern als Schmuck). Und einmal bekam er einen Weizenkrug, der etwa 120 000 DM wert war, und den er für eine Auktion versteigerungswürdig machen sollte. Der hauchdünne Deckel war eingerissen. Man könnte versuchen, die reparierten Stellen mit der Lupe zu suchen, vergebens, sie sind nicht mehr zu sehen. Meisterarbeit.

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