Auch Florida war Indianerland, auch dort wurde die Urbevölkerung von den Kolonialmächten und später der USA-Regierung bekämpft. Die Miccosukee verbargen sich vor den Nachstellungen in den Everglades-Sümpfen.
Groß gewachsen, schlank, das volle Haar halb grau, wache Augen, ein paar Altersflecken im hellbraunen Gesicht. Man sieht ihm seine 84 Jahre nicht an. Und doch hat Buffalo Tiger in den 30 Jahren, in denen er gewählter Stammessprecher und Häuptling war, Schwerarbeit geleistet. Sprecher wurde er, weil er nach der indianischen Tradition aufwuchs, aber eine Weiße heiratete und also beide Welten kennen lernte. Als einziger Miccosukee sprach er gut Englisch. Wegen seiner Besonnenheit und seines Verhandlungsgeschicks wurde er einer der prominentesten Indianerführer Nordamerikas. Noch geschwächt von einer Grippe, erzählt der alte Indianer blumig und bildreich aus der Geschichte seines Volkes.
Die Miccosukee (»Kopf des Wildschweins«) lebten einst in der Nähe der heutigen Florida-Hauptstadt Tallahassee im Norden der Halbinsel von Jagd, Fischerei und Maisanbau. Sie gehörten zur Nationalität der Creek-Indianer, deren Jagdgründe auch die heutigen Staaten Alabama und Georgia umfasste. Doch obwohl sie des selben Blutes waren, bekriegten sich die Unterstämme regelmäßig. Und die Kolonialmächte England, Frankreich und Spanien, die seinerzeit um die Territorien der »Neuen Welt« stritten, missbrauchten die streitbaren Creek weidlich.
Als die USA-Regierung das »Indianerproblem« nach mehreren zermürbenden Indianerkriegen 1830 auf Drängen der weißen Siedler endgültig lösen wollte, wurde beschlossen, alle Indianer des Ostens zwangsweise nach Oklahoma in ein Reservat umzusiedeln. Damals zogen sich die Miccosukee ins Everglades-Sumpfland im Süden zurück, ein unzugängliches Terrain, das sie durch ihre weiten Jagdzüge kannten. Ein Umzug nach Oklahoma kam für sie nicht in Frage. »Im Westen geht die Sonne unter, das ist der Ort der Dunkelheit, des Todes. Dorthin geht kein Miccosukee freiwillig«, erzählt der alte Häuptling. Viele andere Indianer überlebten denn auch die Deportation nach Oklahoma nicht oder starben später in den Lagern - nicht an der mythologischen Dunkelheit, aber wegen schlechter Behandlung, schlechter Versorgung oder eingeschleppter Krankheiten der Weißen.
Miccosukee-Familienclans bezogen Quartier auf kleinen Inseln in den Everglades. Sie, die zuvor in größeren Dorfgemeinschaften auf dem Trockenen gesiedelt hatten, mussten ihre Lebensweise ändern. Auch im Sumpf wurden sie vom Militär der Weißen gnadenlos verfolgt. Oft entkamen sie dem Gemetzel nur, indem sie im Wasser untertauchten und durch Schilfrohre atmeten. Nur etwa 50 Indianer überlebten bis zum Friedensschluss mit der Regierung 1870.
Doch ein neuer Konflikt bahnte sich an: Über viele Jahre lebten die Miccosukee zurückgezogen nach den Regeln der Natur und ihrer Vorväter. Der Bau des Highways 41, des Tamiami-Trails von Miami quer durch die Everglades, brachte ab 1926 die Wende, denn fortan war das Naturvolk seiner Abgeschiedenheit beraubt. Ingenieure, Landvermesser, Wildhüter kamen immer öfter in den Sumpf, schauten ungebeten in die Kochtöpfe, machten Vorschriften für die Jagd und das Leben. Als der Everglades-Nationalpark gegründet wurde, sollten die Miccosukee ihr angestammtes Land sogar verlassen, die Jagd im Park wurde verboten.
Der Ältestenrat beauftragte Mitte der 50er Jahre Buffalo Tiger als Stammessprecher, über das Nutzungsrecht an dem Land zu verhandeln und die Regierung zu bitten, jegliche Einwirkung zu unterlassen. Nur waren die Miccosukee als Stamm nicht offiziell anerkannt, sie wurden nicht ernst genommen. In ihrer Not wandten sie sich an die früheren Kolonialmächte, um auf Verträge zu pochen, die einst zu Gunsten der Indianer geschlossen worden waren. Dies erfuhr Fidel Castro und lud eine Miccosukee-Delegation nach Kuba ein. Castro wollte medienwirksam die USA ärgern und erkannte die Miccosukee offiziell als indianische Nationalität an, sicherte ihnen Unterstützung und im Notfall gar eine Umsiedlung nach Kuba zu, falls sie von ihrem angestammten Land vertrieben werden sollten. Kaum wieder in Florida, erhielt Buffalo Tiger einen Anruf des obersten Indianerkommissars aus Washington: Der versprach sofortige Anerkennung und Landzusage, wenn man sich nur nie wieder mit Castro träfe.
»In meiner Jugend lebten wir noch völlig in indianischer Tradition. Es gab keine Schulen. Wir mussten lernen, mit der Natur und dem Wetter umzugehen. Es gab nur ganz wenig materielle Dinge auf den Familieninseln - Kochgeschirr, Arbeitsgeräte und Waffen, die Kleidung aus Stoff oder Fellen. Zu essen gab es neben erlegten Wildtieren und Fisch hauptsächlich Sofkee, dünnen Maisbrei. Am Abend erzählten die Alten aus der Geschichte und der Mythologie. Es gab keine Grenzen, Zäune, wir waren völlig frei«, erzählt der Alte wehmütig. Die Achtung vor der Natur ging so weit, dass die Kinder nicht einmal Fliegen oder Mücken töten durften. Verboten war ihnen auch, mit Weißen zusammen zu sein - zu schlimm waren die Erfahrungen im Umgang mit ihnen.
Der Stamm der etwa 500 Miccosukee lebt noch heute abgeschieden mitten in den Everglades, etwa 40 Kilometer westlich von Miami. Äußerlich haben sie den modernen Lebensstil angenommen, fahren Autos und beherrschen meist auch Englisch. Die kleinen Familieninseln haben als Wohnstätten ausgedient, die Stammesmitglieder wohnen in einer kompakten Siedlung in modernen Häusern. Die meisten haben Arbeit in der Stammesverwaltung, der Schule, dem Krankenhaus, der eigenen Polizeibehörde. Andere verdienen ihr Geld an den Everglades-Touristen. Bootstouren durch den Sumpf sind beliebt, der Stamm betreibt ein Restaurant, eine Tankstelle und auch ein Indianerdorf, in dem das alte Leben im Sumpfland dargestellt wird.
Manches »Moderne« ist indes nur Fassade. In den Familien wird zu 90 Prozent die Indianersprache Hitchiti gesprochen, viele Miccosukee gehen nach wie vor auf die Jagd nach Alligatoren oder Wildschweinen, denn »Miccosukee lieben es, ihr Essen zu jagen«, sagt Buffalo Tiger. Etliche Familien haben neben ihren Häusern noch Chikees (offene Strohdachhütten) stehen, in denen sie im alten Stil leben können. Im Dorfkrankenhaus wird wahlweise nach den Regeln der Medizinmänner oder nach westlicher Art behandelt. Jungen und Mädchen werden von ihren Eltern, Onkeln und Tanten in der alten Lebensweise unterrichtet.
Höhepunkt des Indianerjahres ist nach wie vor der »Green Corn Dance«, ein mehrtägiges Fest aus Anlass der Maisernte. Es wird unter Ausschluss der Öffentlichkeit begangen, damit es nicht zum Spektakel verkommt. Während dieser Tage wird Gericht gehalten, die Jungen erhalten ihre Erwachsenen-Namen, Paare finden sich, Hochzeiten werden gefeiert. Ballspiele, Tänze und Lieder vertiefen den Zusammenhalt, erneuern den gemeinsamen Glauben an »Breathmaker«, den Gott, der den Atem gibt. Traditionell kratzen sich Erwachsene die Haut blutig, damit »altes, schweres« Blut abfließt und Platz für neues wird.
Trotzdem leidet die kleine Stammesgemeinschaft an Erosion. Die Abgeschiedenheit im Sumpf verhinderte lange Zeit eine Vermischung mit Weißen. Heute steht gemischten Verbindungen nichts mehr im Wege (als Stammesmitglied wird aber nur anerkannt, wer eine Miccosukee-Mutter hat). Man hält zwar noch räumliche Distanz zum modernen Florida, ist aber nicht weltfremd und passt sich dem amerikanischen Lebensstil an. In zwei Generationen könnte das indianische Erbe ein Fall fürs Museum sein. »Den Schlangentanz haben wir schon verloren, keiner kennt und beherrscht ihn mehr. Das kann mit dem "Green Corn Dance" und unserer Sprache genauso passieren«, klagt Buffalo Tiger. »In meiner Jugend war das Wasser der Everglades glasklar bis zum Boden, sauber und trinkbar. Es gab so viele Fische, dass man nur mit dem Kanu hin- und herwackeln musste, und ein paar verschreckte Fische sprangen ins Boot, man hatte zu essen. Heute wird Abwasser in die Everglades gepumpt, das Wasser ist eine schmutzig-braune Brühe. Die wenigen Fische sind quecksilberverseucht, wir müssen Fisch auf dem Markt kaufen. Die Everglades drohen zu sterben.«
Die Miccosukee stehen heute an vorderster Front im Kampf für die Umwelt, dank Tradition und Glauben: »Breathmaker hat alles geschaffen. Wir haben braune Haut, weil wir aus brauner Erde geschaffen sind, derselben Erde, auf der wir stehen. Das Land zu verkaufen ist für uns undenkbar. Denn wir sind ein Teil des Landes, und das Land gibt uns alles, was wir brauchen. Nahrung, Wasser, Luft, den Platz zum Schlafen«, erklärt der weise Häuptling. Nach langem Kampf haben die Indianer den Bau eines neuen Flugplatzes für Miami in der Nähe ihres Reservats verhindert, der ihrer Lebensweise ein Ende gesetzt hätte.
Buffalo Tiger hätte allen Grund, sich zur Ruhe zu setzen. Kann er aber nicht, weil er den Stamm zu einer Zeit führte, als der noch bettelarm war und ihn für seinen Dienst nicht bezahlen konnte. Er bestreitet seinen Lebensunterhalt heute durch Vermietung von modernen Booten an Touristen. Und bemerkt nebenbei, dass es in den Everglades keine großen Zypressen mehr gibt, aus denen man Einbäume bauen könnte. Er, der den Stamm nach außen öffnete, beklagt heute manche Folgen. »Meine Leute wollen ein interessantes, abwechslungsreiches Leben führen. Sie sollten aber auf das hören, was ihnen die Alten zu sagen haben«, sagt der alte Häuptling. »Früher waren die Indianer schlank und groß, heute sind viele dick und klein«, beklagt er die Maßlosigkeit. Herzprobleme, Bluthochdruck, Diabetes haben sich als Krankheiten des Weißen Mannes eingeschlichen. »Unsere Körper vertragen das Essen der Weißen nicht.«
Die verstreut liegenden Reservatsflächen haben heute den Rechtsstatus eines eigenen Staates, des Staatsgebiets der Miccosukee-Nationalität. Die Miccosukee haben demzufolge das Recht auf »staatliches« Glücksspiel. Auf einem weit vom Dorf entfernt liegenden Areal betreiben sie ein Glücksspielressort mit Luxushotel. Die Einnahmen erklären den relativen Wohlstand des Stammes. Vielleicht ist diese Spielhölle die späte Rache am Weißen Mann. Denn die Bank gewinnt immer, und die Bank sind die Miccosukee.