Darf ich „Neger“ zu dir sagen?
„Zehn kleine Negerlein“ für den Schulunterricht empfohlen - Skandal oder Fauxpas? / Von CHRISTINA MATTE
Foto: dpa/Pernitsch
und in jeder Situation, in der ihre Integrationsfähigkeit auf die Probe gestellt wird, scheitern sie... In heiterer Melodie und mit eingängigem Rhythmus wird mit diesem Lied weißen Kindern ethnozentrisches Überlegenheitsdenken beigebracht und schwarzen Kindern ein Bewußtsein von Minderwertigkeit vermittelt.“
Weiter schreibt sie:
„Als Bürgerin dieses Landes, als engagierte Pädagogin und Therapeutin und -als Mitglied und Mitbegründerin der bundesweiten .Initiative Schwarze Deutsche' fordere ich Sie auf, die Vernichtung der bereits gedruckten und in Umlauf gebrachten Materialien zu garantieren, öffentlich sowie bei Vertreterinnen Schwarzer Organisationen in der Bundesrepublik Stellung zu beziehen, und eine interkulturell besetzte Kommission einzusetzen, die Materialien für Lehrer und Unterrichtsmaterialien auf rassistische und sexistische Inhalte prüft.“
Unterstützt in ihrem Protest wird Frau May Opitz-Ayim unter anderem von Helmut Essinger, Professor für Pädagogik an der Freien Universität Berlin. Sein Fachgebiet ist interkulturelle Erziehung, Schwerpunkt Antirassismus. Er sei Jahrgang 31 und habe „bestimmte Erinnerungen an deutschen Rassismus“, sagt er. Deshalb sei für ihn, „im Sinne von Adorno, oberstes Prinzip der Erziehung: Auschwitz nicht noch einmal“
Essinger weiß, daß besagte Broschüre bis heute nicht eingestampft wurde. Noch Ende Oktober habe die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft ein Paket mit Publikationen bekommen, in dem die Broschüre enthalten war. Lediglich die Seite 75 mit Text und Melodie des Liedes war aus dem Heft 'herausgerissen“, ' noch' '„ünh war Seite 74 mit den didaktischen Anweisungen“
Nach Prof. Essingers Kenntnis ist die zunächst empfohlene und nun entfernte Textfassung „die übelste, die es gibt. Da werden alle gängigen Vorurteile reproduziert und auf kindliche Art verniedlicht - der Neger, der sich totfrißt, der Neger, der sich tottrinkt, der Neger, der sich tpttanzt.“ Daß das Lied eine Volksweise sei, mache die Sache nicht besser: „Das heißt, es gehört zu unserem Volksgut.“
Essinger entlastet die Autoren nicht, aber er belastet uns alle, wenn er von „strukturellem Rassismus“ spricht. Der sei uns oft gar nicht bewußt, weil er in unserer weißen Struktur ist: „Wir sehen die Welt unter weißem Gesichts-
punkt. Beispiele für diese weiße Struktur sind nach Prof. Essinger Begriffe wie erste und dritte Welt - die Eins sei in unserem Sprachverständnis gut, die Drei weniger gut. Auf diversen Bildern in Erdkundebüchern stünden Entwicklungshelfer oben, um nach unten in die dritte Welt zu gehen
- oben gut, unten weniger gut. „Wir nennen uns Hochkulturen und sprechen von primitiven Kulturen, ohne sie zu kennen“, untermauert er die These weiter „Wenn man das umlegt auf Schulverwaltungen und Schulen, erkennt man die weiße Struktur schon darin, daß die Leitungsebenen überwiegend
- nicht ausschließlich - männ-
lich und weiß besetzt sind; ein sexistisches Moment kommt noch hinzu. Das Reinigungspersonal dagegen ist weiblich und .Schwarz' Schwarz bezeichnet hier auch die Türkin.“
Herr Egbert Jancke, Leiter des Instituts, hat auch einen Brief geschrieben. An Frau May Opitz-Ayim. „Darin habe ich mich in aller Form und ausdrücklich entschuldigt“, berichtet er, „und ich hoffe, sie hat den Brief jetzt erhalten.“ Das ist unwahrscheinlich. Denn Frau May Opitz-Ayim hält sich gerade in Ghana auf; dort will sie den Jahreswechsel verbringen. So weiß sie zu dieser Stunde noch nicht, daß Herr Jancke die Publikation aufrichtig bedauert, die er obwohl er abwesend war - als Leiter natürlich verantwortet.
„Bei uns war die Sache schon im September erledigt,
ehe die erste öffentliche Äußerung kam“, erklärt Jancke. „Im September haben wir den Fehler festgestellt - wir erhielten den Hinweis aus einer Schule! Daraufhin haben wir den Vorgang erörtert und die Konsequenz gezogen, daß die Broschüre nicht weiter verteilt wird. Aus beiden Bibliothekszweigstellen wurden ausgelegte Hefte entfernt, die Restexemplare sind unter Verschluß, nur „in begründeten Fällen ausleihbar“
Eingestampft wurde die Auflage nicht. Nach einer Veröffentlichung der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft sah Jancke keinen Handlungsbedarf mehr, denn: „Die Sensibilität ist mit Sicherheit vorhanden. Ich habe Vertrauen in die Berliner Lehrer.“ Es wäre schön, wenn er das zu Recht hat. Hoffnung besteht: Falls die meisten Lehrer nicht ohnehin mehr Instinkt besitzen als die Verfasser, dürfte die öffentliche Diskussion ihre Aufmerksamkeit jetzt tatsächlich auf etwas gelenkt haben, über das nachzudenken lohnt.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.