»Steht auf, wenn ihr Schalker seid«

Wie erklärt ein Gelsenkirchener im Urlaub, woher er kommt?

  • Manfred Wieczorek
  • Lesedauer: 7 Min.
In der Stadt der tausend Feuer, lebt seit vielen Jahren schon der Traum vom FC Schalke, hier hat der Fußball Tradition«, heißt es in einem der unzähligen Lieder, die den Mythos Schalke 04 besingen. Jetzt hat der Mythos Geburtstag, wurde 100 Jahre alt. Opa Pritschikowski vom schönen Emscherstrand kennt ihn angeblich schon seit 1904. Und alle Schalke Fans singen mit ihm:»Ob ich verroste und verkalke, ich gehe immer noch auf Schalke. Ob ich erlahme und ergrau, ich liebe königsblau.« Wer als Gelsenkirchener im Urlaub zu erklären versucht, woher er kommt, erntet oft fragende Blicke. Ruhrgebiet? Alte Klischees kommen hoch. Von Kohle und Stahl, harter Arbeit und einem ständig grau verhangenen Himmel. Schalke! Oft hellt sich dann die Miene des fragenden Gegenübers auf: »Schalke, ja klar!« Aber wo ist Schalke? »Anne Grenzstraße« soll Schalkes Kicker-Legende Ernst Kuzorra den schwedischen König kurz beschieden haben. Und Gelsenkirchen? »Na, um Schalke.« Genauer konnte es Ernst Kuzorra nun wirklich nicht beschreiben. Alle 14 Tage pilgern die Schalke-Fans zu ihrer Kultstätte, der Arena AufSchalke. Rund 190 Millionen Euro hat sie gekostet. Das Dach lässt sich schließen, der Rasen herausfahren. Schon wird aus einem Fußballstadion eine Multifunktionshalle für Opern, Rock-Konzerte oder auch Biathlon. Mehr als 130 Millionen Euro setzt der Verein jährlich um. Er ist längst ein Wirtschaftskonzern mit etwa 200 Angestellten und der zweitgrößte Gewerbesteuerzahler der Stadt. Regelmäßig heißt es bei den Heimspielen: 61266 Zuschauer - ausverkauft. Für viele ist die Arena an sich schon ein Erlebnis. Für den hart gesottenen Teil der Schalke Fans sind das die »Arena-Touristen«. Die, die sich an dem Mythos Schalke, an der tollen Stimmung im Stadion berauschen. Ein Event besuchen wollen, wie es auf Neudeutsch heißt. Und doch sind Schalke-Fans und »Arena-Touristen« längst eine unausgesprochene Allianz eingegangen. Die 10000 Fans auf den Stehplätzen der Nordkurve sorgen für Stimmung, sind die Zeremonienmeister des Events. »Steht auf, wenn ihr Schalker seid« oder »Wer nicht hüpft, der ist Borusse« sorgen für Bewegung im ganzen Stadion. Borusse? Wer etwas Mitleid hat, sagt, das sind die armen verirrten Seelen, die aus unerfindlichen Gründen den Schwarz-Gelben von Borussia Dortmund anhängen. Es ist verpönt, den Verein beim Namen zu nennen. Es ist die verbotene Stadt am Rande des Ruhrgebiets, irgendwo in der Nähe von Lüdenscheid. Irgendwie ist es wie mit dem Highlander aus dem gleichnamigen Film - es kann nur einen geben. Ruhrpott-Derbys gegen den verhassten Nachbarn sind das Größte. Auch für die »Very Important Persons« in ihren VIP-Logen oder auf den Business-Seats - sie lassen sich mitreißen, werden bestens unterhalten. Und sie bringen das Geld, um die 40 Millionen Euro für die Gehälter der Kicker aufzubringen. Fans und »Arena-Touristen« brauchen sich gegenseitig und haben eines gemeinsam: »Ich hab nen Traum in Blau und Weiß, von Spielern, die fantastisch siegen...« klingt es aus den Boxen der Autos auf dem Weg zum Stadion. Die Wirklichkeit in Gelsenkirchen ist eher ein Albtraum. Anfang der 80er Jahre lag die Arbeitslosenquote bei rund acht Prozent, heute sind es fast 18 Prozent. Als die Königsblauen 1958 ihre letzte Meisterschaft feierten, arbeiteten noch 50000 Menschen unter Tage. Es waren Bergleute, die den Verein gründeten. Deshalb nennt man die Schalker auch »die Knappen«. Mehr als 20000 schufteten in der Stahlerzeugung und rund 5000 Frauen in den Textilfabriken. »Tausend Feuer in der Nacht, haben uns das große Glück gebracht. Tausend Freunde, die zusammenstehn, zusammenstehn, dann wird der FC Schalke niemals untergehn«, heißt es im offiziellen Vereinslied. Der Strukturwandel hat die Stadt mehr als 100000 Einwohner gekostet. Die U-Bahn ist nur ein Torso. Einst wurde sie für 400000 Einwohner geplant. Heute leben in Gelsenkirchen rund 274000 Menschen, mit weiter sinkender Tendenz. Wer bleibt ist alt, arm oder arbeitslos. Oder vielleicht nur trotzig. Als der künftige Schalker und noch Bremer Ailton über Gelsenkirchen sagte, die Stadt sei ein Desaster, schlugen die Wogen der Empörung zunächst hoch. Dann wurde der Brasilianer mit Einladungen überhäuft, um ihm zu zeigen, dass es sich mitten im Revier gut leben lässt. Mehr als vier Millionen Euro Jahresgehalt sind Ailtons Tore Schalkes allgewaltigen Manager Rudi Assauer wert. Der Traum der Meisterschaft soll so erkauft werden. Obwohl die Fans endlich wieder Meister werden wollen, halten viele den eingeschlagenen Weg für falsch. »Ailton - nein danke«, stand auf einem Fan-Transparent beim letzten Heimspiel zu lesen. »Diese Diva passt nicht hierher«, murren sie. Andere beschimpfen ihn als »Söldner«. Auf Schalke sind andere Typen gefragt. Spieler wie Mike Büskens, der auf der linken Abwehrseite den Platz umpflügte, oder Marc Wilmots, genannt »Willi, das Kampfschwein«. Die Eurofighter eben. Jene Mannschaft, die 1997 für den größten Erfolg in der Vereinsgeschichte sorgte und gegen das vermeintlich übermächtige Inter Mailand den UEFA-Cup gewann. »Blut, Schweiß und Tränen« titelten die Sportzeitungen danach und glaubten so das »Wunder von Mailand« erklären zu können. Wahrscheinlich haben sie damit sogar einen kleinen Zipfel des Mythos Schalke 04 erfasst. »Wir schlugen Roda, wir schlugen Trabzon, wir schlugen Brügge sowieso. Valencia, Teneriffa, Inter Mailand, das war die Show«, singen die Fans noch heute. Unvergesslich ist ihnen jener Abend in der kalten Betonschüssel Parkstadion. Nur einen Abschlag weit von der Arena entfernt. Nach 19 Jahren endlich wieder im internationalen Fußball dabei. Drei zu null hieß es am Ende gegen Roda Kerkrade. Die Fahnen im Wind und Tränen in den Augen, war an diesem Abend klar: Diese Mannschaft, vor zwei Jahren noch knapp dem Abstieg aus der Bundesliga entronnen, ist etwas ganz Besonderes. Vier Jahre später flossen wieder Tränen auf Schalke. Bittere Tränen der Enttäuschung. Zum Abschied aus dem Parkstadion hielt Schalke die Meisterschale in den Händen. Für vier Minuten - Bayern schoss in der Nachspielzeit doch noch ein Tor und entriss den Königsblauen die Schale. Den Gelsenkirchenern blieb nur der Titel »Meister der Herzen«. »Arbeitslos und eine Flasche Bier, das ist der S 04, das ist der S 04« oder »Ihr seid die Ruhrpott-Kanacken«, so werden Schalke-Fans geschmäht. »Bis in die 30er Jahre wurde Schalke als Polackenclub beschimpft, und heute sehen uns Fans anderer Mannschaften als Ruhrpott-Kanacken« schlägt Bodo Berg von der Schalker Fan-Initiative die Brücke zur Gegenwart. Die 30er und 40er Jahre waren Schalkes erfolgreichste Zeit. Mit ihrem Kurzpass-Spiel, dem »Schalker Kreisel«, wurden während der Nazi-Diktatur sechs der sieben Meistertitel gewonnen. Aus der Glückauf-Kampfbahn wurde die Adolf-Hitler-Kampfbahn. Der erfolgreiche Arbeiterverein kam den Nazis für ihre Propaganda gerade recht. Der blonde Fritz Szepan wurde Kapitän der Nationalmannschaft und profitierte von den so genannten Arisierungen. Zum hundertsten Geburtstag hatte der Verein endlich eine Studie über seine NS-Vergangenheit in Auftrag gegeben. 100 Schalker Jahre - da sollte den Fans etwas Besonderes geboten werden. »Nullvier - keiner kommt an Gott vorbei«, so heißt das Musical, das Schalkes Manager Rudi Assauer beim Musiktheater im Revier (MiR) zum Geburtstag in Auftrag gab. Er wolle Kultur und Sport miteinander verbinden. Von 27 Vorstellungen sind 21 bereits ausverkauft. Die Geschichte, die das Musical erzählt, ist fiktiv - und doch so nah an der königsblauen Wirklichkeit der 80er Jahre. Oft suchte das Abstiegsgespenst in diesen Jahren den Club heim. Das ist auch im Musical nicht anders: Der alternde Star-Kicker Stephan Krause verschießt im vorletzten Saison-Spiel einen Elfmeter, der Abstieg scheint besiegelt. Doch da zieht der Trainer sein letztes Ass aus dem Ärmel. Jojo Schrader ist ein hoffnungsvolles Nachwuchstalent und soll im letzten Spiel alles zum Guten wenden. Schalke-Fans wird dieser Jojo Schrader sofort an den jungen Olaf Thon erinnern. Den letzten großen Spieler, der »noch auf Kohle geboren wurde«, wie Mannschaftsbetreuer Charly Neumann den Mythos nährt. Und dann ist da noch der alte Fan, der in diesem Ruhrpottmärchen mit Gottvater höchstpersönlich verhandelt. Er will partout nicht sterben, bevor er nicht weiß, wie das letzte Saisonspiel ausgeht. Doch an Gott kommt eben keiner vorbei, außer Stan Libuda... Aber das ist eine andere der unendlich vielen Schalke-Geschichten. Was ist er also - der Mythos Schalke? Für die Fans ist alles ganz einfach: »Tausend Trainer schon verschlissen. Spieler kommen, Spieler gehn. Doch was stets bleibt, sind wir Schalker, die immer treu zur Mannschaft stehn.«

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