„Infantilisierung der Armut“
Zur ganzen Wahrheit aber gehört, und hier sei nochmals das „Sonntagsblatt“ zitiert: „Das Trauerspiel in Sachen Kindergartenplätze ist nur ein Symptom dafür, daß Deutschland ein - politisch gewollt - kinderunfreundliches Land ist und bleibt. Die Folgen sind fatal: Unsere Gesellschaft wird kinderarm, vergreist. Wachstum ist nur noch ein wirtschaftlicher Begriff. Ein ganzes Land ist dabei, in den Ruhestand zu treten“
Kinderfeindlichkeit, gepaart mit Familien- und Frauenfeindlichkeit, das sind bittere Tatsachen, die nicht einmal Familien- und Jugendberichte der zuständigen Ministerien
leugnen können: Über 2,2 Millionen Kinder, das heißt jedes 7 Kind in den alten und jedes 5. Kind in den neuen Bundesländern, leben in Familien unter der Armutsgrenze. Deren Netto-Einkommen liegt unter dem Sozialhilfesatz. Mindestens eine weitere Million Kinder wachsen in Familien auf, die allein auf die Sozialhilfe angewiesen sind. Auch ein zunehmender Teil der Jugendlichen lebt nur von der „Stütze“, in Ostdeutschland bereits jeder 3. Daß allein hier über eine Million Kinder von der Arbeitslosigkeit ihrer Eltern betroffen ist, -bekommen Sozialarbeiter und Pädagogen alltäglich zu spüren. Hierzulande vegetieren etwa 500 000 Mädchen und Jungen in Obdachlosen- oder ähnlich unzumutbaren Quartieren. Die Anzahl der vagabundierenden sogenannten Straßenkinder beziffert der Kinderschutzbund vorsichtig mit 37 000; doch werden es ständig mehr. Solche Tatsachen bezeichnet die „Armutsstudie“ des DGB als „Infantilisierung der Armut“
Zugleich - und das ist wahrlich kein Trost für die Kinder, die unter der „neuen Armut“ leiden - nehmen etwa 4 Millionen Kinder am Wohlstand ihrer Eltern in einer Weise teil, daß Experten von den „ausgeschenkten Kindern“ sprechen, denen jeder Wunsch erfüllt wird und die ein entsprechendes Bankkonto erben. Vorwiegend sie werden von den Werbeexperten, den modernen Rattenfängern, als gegenwär-
tige und künftige Konsumenten gehätschelt, wobei die erzieherischen Auswirkungen niemand mehr überschaut.
Deutschlands Kinder haben bereits ihre Zwei-Drittel-Gesellschaft mit deutlicher Neigung zu weiterer Polarisierung von Arm und Reich!
Daß darüber hinaus 2 Millionen von ihnen in Ein-Elternteil-Familien leben und Alleinerziehende zumeist häufiger und länger arbeitslos sind, daß alljährlich etwa 150 000 Kinder zu Scheidungswaisen werden, findet man in seinen Folgen nur noch selten erwähnt. Gewalt gegenüber Kindern - mindestens 60 000 von ihnen werden alljährlich in ihren Familien so mißhandelt, daß sie dauernde körperliche Schäden davontragen - sowie deren Vernachlässigung ist ein Kennzeichen nicht nur armer Familien. Untersuchungsergebnisse, wonach mindestens jedes 10. Kind (insgesamt etwa 1 1/2 Millionen) vorwiegend als Resultat negativ wirkender sozialer Bedingungen verhaltensgestört ist, beschäftigt zumeist nur Experten oder gelegentlich sensationslüsterne Blätter
Sparmaßnahmen im Bildungs- und Erziehungsbereich führen in fast allen Bundesländern zu unübersichtlichen, das einzelne Kind in die Anonymität drängenden Schulen, zu pädagogisch unverantwortlichen Gruppen- und Klassenstärken. In der Wirtschaft und Verwaltung übliche Kriterien werden teilweise hemmungs-
los auf die Arbeit der Schulen übertragen. Typisch dafür sind die Millionen verschlingenden „Kienbaun-Gutachten“, deren Nutzanwendung auf Kinder jedem Schulpolitiker die Schamröte ins Gesicht treiben müßte.
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