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  • Kultur
  • Frank Castorf inszenierte Stück von Elfriede Jelinek am Hamburger Schauspielhaus

Ein tierisches Vergnügen

  • Lesedauer: 3 Min.

Claudia und Isolde, zwei Hausfrauen aus der Vorstadt, verabreden sich mittels einer Kontaktanzeige mit zwei Herren in Bär- und Elchmaskerade zu einem Blind-date-Fick auf dem Klo der Raststätte „Zwillingsgipfel“, um endlich „das Tier in sich“ kennenzulernen. Daß sich ein solches unter ihren gepuderten und gesprayten „ Stretch-Einheiten-Naturen verschlossen“ hält, hofft wohl auch Elfriede Jelinek, die Autorin des Stücks „Raststätte oder sie machens alle“. Sie bemüht sich, die „beispiellose Normalität“ zu sprengen, das Ur- bzw Untier freizulegen („Ich will verschmutzt werden“), indem sie deren verkleisterte Begrifflichkeiten miteinander verquickt. Ein Satyrspiel soll es sein. Doch verklebt sich die Fäkaliensprache der Jelinek allzusehr in bedeutungsvoll anmutender Intellektualität, als daß das schmerz-

wie lustvoll Dionysische zum Fließen kommen könnte.

Zu fließen beginnt es erst in der deutschen Erstaufführung am Hamburger Schauspielhaus, wo sich unter der Regie von Frank Castorf ein solch vielsagender Abgrund nicht mehr auftut. Die Transparenz, wird uns hier mit Zitaten Baudrillards erklärt, ist längst in den Zustand der „Transluzidität“ übergegangen, was soviel heißt wie: die Innerlichkeit haben wir bereits ausgefliest. Dies verbildlicht auch der kahle Bühnenraum Bert Neumanns mit seinen vertäfeltverkachelten Wänden (und einem länglichen Fenster für die Essensausgabe und allerlei Kasperl-Theater), auf die es nurmehr draufzukacken gilt, anstatt sie aufzubrechen.

Isolde und Claudia (Marion Breckwoldt und Inka Friedrich) in sportlichen G(l)anzkörperanzügen haben für sol-

che Fälle Kleenex-Tücher griffbereit. Ihre Ehemänner (Stephan Bissmeier und Bernhard Schütz) rezitieren, mit poppigbedruckten T-Shirts („Born to be wild“) bekleidet, fließend den „Zauberlehrling“, während der Kellner (Siggi Schwientek) im Baströckchen Schillers „Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet“ zum besten gibt. Und die typisch Castorfschen Würstchen-auf-Papptellern-Slapsticks fehlen natürlich auch nicht. Elch und Bär ziehen, über ihre eigenen Fellmassen stolpernd, eine Claudia Schiffer-Miniatur auf Rädern über die Bühne, bis es endlich zur wilden Klo-kopulation kommt. Diese entpuppt sich, trotz aller Mühe, als bloß klinisch-distanzierte Inszenierung des Ur-Seins. Unter den Tiermasken verstecken sich doch nur die eigenen Ehemänner. Erst die Reproduktion

des Vorgefallenen auf Video läßt die Frauen jauchzen, erhebt es zur tierischen Super-Realität. „Das andere, das Fremde“, ist nurmehr eine „Halluzination“ (Baudrillard). Die heile Natur dem menschenfressenden, orgiastischen Wahnsinn unseres deformierten Systems gegenüberzustellen, wie es die Regieanweisungen der Autorin vorschreiben, kam Castorf jedenfalls nicht nach. Statt dessen werden Teile daraus von einer Frau in Playboy-Hasi-Kostümierung (Carolin Mylord) vorgetragen.

Jelineks Erwartungen an Castorfs „gewisse Respektlosigkeit“ wurden bei weitem übertroffen. Denn am Ende der Aufführung wird die Autorin selbst, in Gestalt einer Riesenbarbie mit gelbblinkenden Brüsten per Fließband über die Bühne gefahren.

JO-ANNA HAMANN

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