Manntje' Manntje, Timpe Te, Buttje' Buttje in der See. Meine Frau, die Ilsebill, will nicht so, wie ich gern will.« Diese Nachricht muss der treuherzige Fischer aus dem Märchen »Der Fischer und seine Frau« wieder und wieder dem verzauberten Butt überbringen, dem er das Leben rettete. Seine habgierige Frau schickt ihn, weil sie sich im Gegenzug etwas wünschen will. Doch kaum ist ein Wunsch erfüllt, möchte sie etwas noch Schöneres. Am Ende will sie sogar Gott sein. Wer weiß, ob ich nicht gerade auf dem Weg zum Schauplatz dieser Geschichte bin - der Fischerinsel, wo ich mich mit einer außergewöhnlichen Frau treffe.
Nina Madlen Korn ist Berlins dienstälteste Märchenerzählerin. In diesem Jahr feiert sie ihr 45-jähriges Berufsjubiläum. Als sie mir die Tür öffnet, bin ich überrascht: Die 66-Jährige sieht gar nicht wie eine Märchenerzählerin aus. An ihr ist nichts Exotisches, gar Esoterisches. Mir gegenüber steht eine kleine rundliche Frau mit kurzen rot-blonden Löckchen. Ihr Aussehen empfindet sie zumindest für ihren Beruf als nebensächlich. Wenn sie Sagen, Mythen, Märchen, klassische Werke erzählt, stehe vor allem ihre Stimme im Mittelpunkt. Als ich im »Kunstreich«, einem kleinen Laden gegenüber dem Pergamon Museum, einmal dabei sein darf, bezaubert mich ihre Stimme tatsächlich mit ihrer warmen Klangfarbe. Doch Heraushörbar aus vielen durch die warme Klangfarbe, scheint sie durch das jahrzehntelange Training die Stimme einer jungen Frau zu sein. Obwohl sie ihrem Aussehen im Zusammenhang mit ihrem Beruf keinen besonders hohen Stellenwert zumisst, richtet sie sich für ihre Auftritte her, legt Schmuck an und schminkt sich. Im »Kunstreich«, einem Laden gegenüber dem Pergamon Museum, erzählt sie antike Mythen. Als ich einmal dabei sein darf, erzählt sie die Geschichte des Feldherrn Amphitrion. Den kleinen Raum füllen die Zuhörer nicht ganz aus. Wir warten auf die Erzählerin.mit der Frau, die ihr Aussehen eigentlich für nebensächlich hält, hat sich ein Wandel vollzogen. Sie trägt plötzlich ein in Brauntönen gehaltenes, mehrlagiges Tuchgewand. An den Füßen glitzernde Sandalen. Ketten mit Lapislazuli und Ringe zieren Hals und Hände. Ihr Gesicht ist geschminkt. Auf dem kleinen Tischchen neben ihr flackert ein rotes Glas-Herz. Atmosphäre für einen Auftritt. Nach einigen Minuten erhebt sie sich aus dem blendenden Licht der Deckenlampe. Sie sei keine Schauspielerin im Scheinwerferlicht. Schließlich erzählt sie auch nicht nach Vorlage, sondern frei. Das Leuchten aus der Welt, in die sie sich für eine Stunde begibt, die Gestik, das Spiel mit der Stimme, ihre ganze Präsenz erinnert mich dennoch an Theater.
Nina lebt allein in einer sehr hübschen, hellen Wohnung. Im Flur wacht ein Troll, der Hausgeist der Familie Korn, über das Wohlergehen der Bewohnerin und ihrer Gäste. Er wachte schon über das Haus ihrer Kindheit. Das Wohnzimmer sieht orientalisch aus. Dort gibt es nur ein Bücherregal, darin ausschließlich Märchenbücher. Auf dem Boden liegen bestickte Kissen aus Tausend und einer Nacht. Königsblaue Vorhänge teilen den Raum in zwei Hälften. Wir setzen uns in die Küche. Von dem riesigen Fenster hat man einen wunderbaren Panorama-Blick über Berlin. In der Vase auf dem Tisch steht ein großer Strauß Wiesenblumen.
Eines ist von Anfang an klar: Diese Frau kann reden. Und sie liebt es. Kaum, dass wir Platz genommen haben, erzählt sie mir das Märchen von Rapunzel. Es fällt mir leicht, mich auf sie einzulassen, und ich bedaure, dass ich mich nicht auf einen der fliegenden Teppiche in Flur oder Wohnzimmer legen und die Augen zumachen kann. Die energiegeladene Frau steckt voller Leidenschaft für diesen ungewöhnlichen Beruf - auch wenn er, vor allem nach der Wende, nicht immer bequem war. Angefangen hat alles mit ihren fantasiebegabten Eltern. Ninas Mutter, Ilse Korn, ist durch das Schreiben mehrerer Kinderbücher - unter anderem »Mohr und die Raben von London«, in dem sie und ihr Mann Vilmos die Geschichte von Karl Marx erzählen - sehr bekannt geworden. Sie war die erste Märchenerzählerin der DDR. 1907 in Dresden geboren, macht sie ihre Leidenschaft für Bücher und Geschichten zum Beruf und wird Als die Bibliothekarin 1933 hilflos der Bücherverbrennung auf dem Dresdner Schlossplatz zusehen muss,beschließt sie aktiv gegen den Terror des Nazi-Regimes zu kämpfen.Mit ihrem Mann, dem Journalisten Vilmos Korn, verband sie nicht nur der Kampf um Gerechtigkeit, sondern auch die Liebe zu allem, was die Fantasie beflügelt. Als Nina geboren wurde, entschloss sich Ilse, die wie ihr Mann im Widerstand aktiv war, sie zu Pflegeeltern zu geben. Die ersten sieben Jahre wuchs Nina dort behütet auf. Warum ihre Mutter sie so selten besucht und ihr Vater nicht bei ihr sein kann, weiß sie nicht. Im Sommer 1943 wurde Ilse, einige Wochen nach ihrem Mann Vilmos, von der Gestapo verhaftet. Wer sie verraten hat, erfährt sie nie. Zwei lange Jahre bringt die junge Mutter, deren Herz sich nach dem einzigen Kind sehnt, im Frauengefängnis zu. Während des anglo-amerikanischen Angriffs auf Dresden gelang es ihr, aus dem Gefängnis zu fliehen. Am 13.Februar 1945 Ohne Papiere, ohne Lebensmittelkarten hält sie sich mit Hilfe ihrer beiden Schwestern In einem Versteck im Erzgebirge erlebte sie das Kriegsende, das auch das Ende der Trennung von ihrem Kind bedeutete. Am historischen 8. Mai 1945 schloss Ilse Korn ihre Tochter endlich wieder in die Arme. Als auch Vilmos einige Wochen später aus dem Gefängnis frei kam, begann für die zum ersten Mal vereinte Familie eine Zeit des Glücks. Das Zusammensein war für die drei keine Selbstverständlichkeit. Sie holten nach. Die Zeit mit ihren Eltern bezeichnet Nina als die schönste ihres Lebens. Noch heute schwärmt sie von den Sonntagen. Man verbrachte die Zeit mit etwas heute fast nicht mehr Denkbarem: Märchen erzählen. Nicht vorlesen, sondern frei erzählen...
Das hat Nina von ihren Eltern übernommen. Niemals hat sie ein Märchen auswendig gelernt. Auch bei öffentlichen Auftritten improvisiert sie. Mal erfindet sie eine neue Gestalt, mal nimmt sie einem Märchen die Grausamkeit. Denn die, scheint es, stört sie am meisten. Im Märchen wie im richtigen Leben. Es geht immer um Gerechtigkeit. Das ist der Grund, warum Nina Märchen so liebt. Es sind die Armen, die Schwachen, die den Sieg davon tragen. Wenn Nina davon erzählt, ist ihre Sprache scharf wie eine Waffe, ihre Augen leuchten. Von ihrer Rente kann sie kaum leben. Das bisschen, was sie sich durch das Erzählen dazu verdient, reicht nicht aus für ein Zeitungs-Abonnement oder Internet - den alltäglichen Luxus eben. Von Reisen ganz zu schweigen. Im Orient, dem Schauplatz ihrer Lieblingsmärchen, ist sie noch nie gewesen. Als sie von der Armut spricht, die sie und immer mehr Menschen trifft, kommen ihr die Tränen. Sie hat ihr ganzes Geld in die Produktion ihrer CD »Scheherzádes Geschichte und ihre Märchen« gesteckt.
Ihren ersten Auftritt hatte sie mit 15 Jahren. Es waren gerade Ferien. Ihre Mutter kam ins Zimmer und sagte: »Heute musst du mich vertreten. Ich kann nicht sprechen.« Obwohl Nina sie schon oft zu Auftritten auf der Bühne des Mamor- oder des Eichensaalsim Haus der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft begleitet hatte, war sie aufgeregt. Zu den Veranstaltungen, die einmal in der Woche nachmittags stattfanden, kamen etwa 100 bis 120 Schulkinder - mit ihren Lehrern. Und die sollten alle ihr zuhören? Andererseits konnte man die Kinder nicht nach Hause schicken, das sah sie ein.
Also setzte sie sich im Sommerkleidchen auf den Bühnenrand. In dem für die Mutter bereitstehenden Sessel mochte sie nicht sitzen. Das fand sie nicht angemessen. An diesem Tag merkte Nina zum ersten Mal, dass sie einen ganzen Saal mit ihren Märchen zum Schweigen bringen kann. Trotzdem sollte es noch sechs Jahre bis zu ihrem nächsten Auftritt dauern. Erst mit Beginn des Studiums der Theaterwissenschaften an der Theaterhochschule Leipzig fängt sie an, nebenher für Kinder Märchen zu erzählen. Später arbeitet sie als Dramaturgin in der Hörspielabteilung des Rundfunks der DDR. Für den Berliner Rundfunk entwickelt sie die Sendereihe »Ole Bole erzählt Märchen aus aller Welt«, die später »Märchen am Freitag« heißt. 1961 heiratet sie. 14 Jahre später trennt sie sich wieder. Aus der Ehe gehen zwei Kinder hervor. Ihre Tochter Katja Popow arbeitet heute selbst nebenberuflich als Märchenerzählerin. Weil davon niemand leben kann, natürlich nebenberuflich.
Zwischen 1990 und 2000 ist sie arbeitslos. Ihr Traum von der Freiberuflichkeit geplatzt. Zufall oder Schicksal: Im Jahr 2001 hat Nina nach langjähriger Arbeitslosigkeit wieder einen Auftritt als Märchenerzählern, ausgerechnet im Palais am Festungsgraben - ehemals Haus der deutsch-sowjetischen Freundschaft, wo sie ihren ersten Auftritt hatte. Bis heute ist Nina wöchentlich, im Wechsel mit ihrer Tochter Katja Popow, in der Tadschikischen Teestube dort zu Gast und erzählt in orientalischer Atmosphäre Märchen aus dem Morgenland. Für Nina besteht der größte Anreiz darin, Kinder mit ihren Geschichten zu fesseln und sie zum Nachdenken anzuregen. Regelmäßig erlebt sie gerade bei höheren Schulklassen zu Beginn eine Abwehr-Haltung. Wenn sie dannaber erstmal anfängt, hören alle gebannt zu. Für die Märchenprojekte, die sie in Zusammenarbeit mit Schulen veranstaltet, hat sie das »Wortschatzkästchen«, eine kleine braune Holzschatulle, die Worte enthält. Behende, Lebtag, geschwind, Pfropfen. Auf kleine Papierstreifen geschrieben, dienen sie dazu, den Kindern ihre Bedeutung zu erklären. Die meisten kennen diese alten Worte gar nicht mehr. weil ihnen nie oder selten jemand Märchen vorgelesen hat.
Obwohl Nina die politischen Zustände aufregen und sie es in ihrem Leben oft nicht einfach hatte, findet sie die Welt wunderschön. All die großen Dichter und Schriftsteller, Musiker und Wissenschaftler, die aus ihr hervorgegangen sind. All das, wofür die Menschen gekämpft haben. Sie möchte, dass das der Menschheit nicht verloren geht. Ihren Teil dafür tut sie, indem sie den uralten Schatz an Märchen und Geschichten lebendig erhält. Sie will, dass Kinder auch in Zukunft Kraft aus ihnen schöpfen und begreifen, dass die Welt veränderbar ist. Niemand soll sich mit hängenden Schultern seinem Schicksal beugen und auf bessere Zeiten hoffen. Hätte sie noch einmal die Wahl: Sie würde sich wieder für die Märchen entscheiden. Nina sagt über sich, sie sei zum Erzählen geboren.
CD »Scheherzádes Geschichte und ihre Märchen«, Kontakt: www.maerchenfrauen.de, (030) 2045 2108
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