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  • Kultur
  • Gestern abend in Leipzig: große Gala für „Nikolaikirche“, den neuen Film von Frank Beyer

Lüge und Mut in einem Meer aus Lethargie

  • Lesedauer: 5 Min.

Das erste Bild: die Kamera kreist um eine Pistole. Nach dem Knall reißt sich der Schütze den Kragenknopf auf, bricht zusammen. Albert Bacher, General der Staatssicherheit, stirbt beim Training. „Ihr Vater war ein tapferer Mann. Wir haben ihm nicht mehr helfen können“, sagt der Arzt zu seinem Sohn. Es ist Frühjahr 1988, und bald wird dem Land, dem Bacher gedient hat, nicht mehr zu helfen sein. Die DDR ist in ihrer Endzeit angekommen.

In seinem neuen, zweiteiligen Fernsehfilm skizziert Frank Beyer ein Bild dieser Monate bis hin zum November 1989 - und weil das Opus „Nikolaikirche“ heißt und in Leipzig spielt, wurde es gestern dort uraufgeführt: ein Gesellschaftspanorama mit einer Familienstory im Zentrum. Der Geschichte eben jener Bachers, die Erich Loest für seinen gleichnamigen, dem Film zugrunde liegenden Roman erfunden hat. Albert Bacher (Günter Naumann) war Kämpfer gegen den Faschismus, ausgebildet in Moskau, mit fünfundvierzig schon General: „Immer sehr weit weg, sehr weit oben“, erinnert sich Tochter Astrid (Barbara Auer), die als Architektin im Stadtbauamt arbeitet.

Die Schöne, Sensible wird zum schwächsten Glied in dieser staatstragenden Familie. Sie kann nicht mehr mit ansehen, wie ganze Stadtbezirke verrotten und Berichte darüber frisiert werden. Ihre Fahrradausflüge durch den Leipziger Osten - ein Horrortrip, genauso wie ihre Debatten mit dem Chef und dem Parteisekretär. Die Lügen drohen sie zu er-

sticken - sie stürzt in Depressionen, findet sich in einer Nervenklinik wieder Betreut von einem Arzt (Hansjürgen Hürrig), der ihr unmißverständlich rät, sich gegen alles aufzulehnen, was sie zerstört. So beweist sie Zivilcourage, fliegt aus der Partei und geht schließlich in den ersten Reihen der Demonstranten mit, während ihr Bruder Alexander (Ulrich Matthes) auf der anderen Seite der Barrikade bleibt: verschanzt in der Bezirksbehörde der Staatssicherheit, kaum fähig zu begreifen, was auf den Straßen geschieht und daß von irgendwoher der Befehl kam, nicht mit Waffengewalt einzuschreiten...

Beyer und Loest nutzen die Figur dieses jungen Mannes und seines Vorgesetzten (Peter Sodann), um die Stasi „von innen“ zu zeigen: als einen Riesenapparat, dessen Rädchen erbarmungslos mahlen - eine Maschine aus Menschen, die zwar hart scheinen wie Stahl, aber dennoch über Nervenstränge verfügen. Zum Glück und im Gegensatz zu früheren „Wendefilmen“ ist diese Beschreibung undämonisch, frei von Hysterie und ziemlich realistisch. Beschönigt oder verklärt wird dabei nichts, der Film läßt keinen Zweifel am Urteil darüber, daß die flächendeckende Bespitzelung eines ganzen Volkes ein gefährlicher Irrsinn war. In „Nikolaikirche“ gipfelt das in schizophrenen Situationen: Alexander observiert, ohne mit der Wimper zu zucken, seine eigene Mutter (Annemone Haase), als diese einen alten Freund (Alfred Müller) trifft, der schon lange im Westen lebt. Der Sohn erfährt über Richtfunkmikro-

vor Flecken bewahrt bleiben. Verdrängung und Selbstbetrug als fragwürdiger Schutz, im großen wie im kleinen. Der Film steckt voller solcher schlüssiger metaphorischer Sequenzen.

In „Nikolaikirche“, insgesamt knapp drei Stunden lang, wurden zahlreiche Gestalten des weitgefächerten Romans übernommen, freilich die meisten notgedrungen nur in Episoden. Während die Handlung im zweiten Teil - den Montagsgebeten und -demonstrationen - kulminiert, benötigen Beyer und seine Co-Autoren Loest und Eberhard Görner die ersten neunzig Minuten gleichsam zur Exposition; ein dramaturgischer Balanceakt. Einzuführen waren ja nicht nur die Mitglieder der ohnehin schon verzweigten Bacher-Familie, sondern unter anderem auch die Bewohner eines Dorfes im sächsischen Braunkohlerevier, die durch den Tagebau und damit verbundene Umweltschäden existentiell bedroht sind. Rolf Ludwig spielt den schwerkranken Pfarrer des Ortes und skizziert in wenigen Szenen einen aufrechten Geistlichen, der sich während eines friedlichen Protestmarsches mit Bibelworten einer Kampfgruppeneinheit entgegenstellt. Ebenso einprägsam die von Jutta Wachowiak verkörperte Mutter eines von sowjetischen Panzern überrollten Jungen, die ihren eigenen Kampf gegen Verdrängung und Lüge führt. Andere Figuren erreichen diese Diente nicht; auch nicht Ulrich Mühe als Nikolai-Pfarrer Ohlbaum, der fast ausschließlich bei seinen Fürbitt-Gottesdiensten gezeigt wird, dem aber nur ein

schmaler biographischer Hintergrund und nur eine rudimentäre dramaturgische Entwicklung zugestanden werden - er ist eben derjenige, der in seiner Kirche den lange Sprachlosen die Möglichkeit zum Reden einräumt. „Herr, laß uns neu anfangen, öffentlich und privat die Wahrheit zu sagen...“

Um falschen Erwartungen vorzubeugen: „Nikolaikirche“ ist keine Dokumentation, trotz zahlreicher authentischer, inzwischen längst vergessener Details - einschließlich Honekkers Vorschlag, die Olympischen Spiele nach Leipzig zu holen. Er ist auch kein Film über die ganze DDR, sondern konzentriert sich auf eine zerrissene Familie, den Überwachungsapparat und zwei Kirchengemeinden, Refugien in einem Meer aus Lethargie und Zynismus. Aber er ist ein Film, der zum fünften Jahrestag der Einheit eine wichtige Etappe der jüngsten deutschen Geschichte historisch präzise zu charakterisieren versucht: die „friedliche Revolution“ wurzelte im Osten, im Mut einzelner DDR-Bürger, von denen mawcÄePfarrer waren und zunächst keiner nach dem „einig Vaterland“ rief. Helmut Kohl kam erst später, wenn er auch heute gern den Eindruck erweckt, daß er schon immer dagewesen sei.

„Nikolaikirche“ wird heute um 19.30 Uhr noch einmal in der Berliner „ Urania“ voraufgeführt. Im Fernsehen läuft der Film am 17.10 (ARTE) bzw. am 25. und 27.10. (ARD). Erich Loests Roman ist im Linden-Verlag Leipzig / Steidl Verlag Göttingen erschienen.

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