Dieser Text ist Teil des nd-Archivs seit 1946.

Um die Inhalte, die in den Jahrgängen bis 2001 als gedrucktes Papier vorliegen, in eine digitalisierte Fassung zu übertragen, wurde eine automatische Text- und Layouterkennung eingesetzt. Je älter das Original, umso höher die Wahrscheinlichkeit, dass der automatische Erkennvorgang bei einzelnen Wörtern oder Absätzen auf Probleme stößt.

Es kann also vereinzelt vorkommen, dass Texte fehlerhaft sind.

  • Kultur
  • ROBERT HARRIS'„Enigma“ reicht nicht an „Vaterland“ heran

Krieg um den Code

  • REINER OSCHMANN
  • Lesedauer: 3 Min.

Vielleicht war Enttäuschung programmiert: Erst der überzeugende Erfolg mit seinem Romandebüt „Vaterland“. Nun der Nachfolger „Enigma“, der bereits mit anderen Erwartungen gelesen - und für zu leicht befunden wird. Das uralte Problem: Selten gelingen zwei Coups in Serie.

Wie der Romanerstling, ist auch „Enigma“ mit der jüngeren deutschen Geschichte befaßt. Doch während „Vaterland“ grotesk-realistisch die orwellschen Folgen eines Sieges von Nazi-Deutschland im zweiten Weltkrieg für Land, Leute und Erdkreis ausmalte, beschäftigt sich „Enigma“ sehr nüchtern mit dem Kleinkrieg zwischen Briten und Hitlerdeutschland um geheime Funksprüche. „Enigma“ war dabei so etwas wie eine deutsche Erfolgsstory, eine Maschine zur Verschlüsselung, die für Freund und Feind lange Zeit als wasserdicht galt und kriegsbedeutend wurde, als in der „Schlacht im Atlantik“ amerikanische Geleitzüge häufig in der U-Boot-Falle der Faschisten landeten.

Robert Harris erzählt die fieberhaften Anstrengungen britischer Militärs und Wissenschaftler, den deutschen „Enigma“-Schlüssel zu finden. Er schildert Mühseligkeit und Armseligkeit des Alltags in den

Robert Harris: Enigma. Roman. Aus dem Englischen von Christel Wiemken. Wilhelm Heyne Verlag München. 444 S.. geb.. 44 DM.

Baracken des hochgeheimen Militärcamps von Bletchley Park nördlich von London, das verzweifelte, unterernährte und ewig übermüdete Bemühen der Kryptoanalytiker, die deutschen Codes zu knacken und damit den Feind zu schwächen. Die Ratlosigkeit in Bletchley Park war im Winter 1943 teilweise so groß, daß die Experten mit bloßem Aktionismus weiterzukommen suchten. Schließlich sei bisher „kein Kryptogramm“, so ruft sich Häuptgestält Tom Jericho in Erinnerung, „je durch bloßes Anstarren entschlüsselt worden“.

Die Suche nach einer Eselsbrücke, die den Zugang zu „Enigma“ ermöglichen würde, prägt die Kampagnen im Camp, und in vieler Hinsicht erleben die Mathematiker und Logiker ihr Vorgehen als Kampf gegen Windmühlenflügel. „Dieser Kampf gegen .Enigma' ging nie zu Ende. Es war ein Schachturnier über tausend Runden gegen einen Spieler mit schier unglaublicher Abwehrkraft, und jeden Tag kehrten die Figuren zu ihrer ursprünglichen Position zu-

rück, und das Spiel begann von neuem.“

Soweit so gut, soweit das Buch - wie bei „Vaterland“ eine geschichtskundige Darstellung durch den Autor. Als arg artifiziell, verstiegen und zunehmend lästig habe ich Harris' Umgang mit Ciaire Romilly empfunden, der zweiten, im gewissen Sinne eigentlichen Hauptfigur des Romans. Vom englischen Geheimdienst in Bletchley eingeschleust, um Verrat an den deutschen Feind zu verhindern, füllt sie nur den Part einer dramaturgisch benötigten Geliebten des blassen, traurigen, aber messerscharfen Analytikers Tom aus.

Harris hatte nicht nur Schwierigkeiten, mit der naturgemäß komplizierten Materie der „Enigma“-Maschine vertraut zu werden. Man spürt auch die literarischen Probleme, Ciaire glaubhaft ins Geschehen zu bringen. So bleibt Ciaire ein Retortenbaby, ein Phantom der Oper - und Harris das eigentliche Opfer von „Enigma“. Daß man das Buch trotzdem bis zum Ende lesen kann, erklärt sich für den Rezensenten mit dem Pointen-Feuerwerk zum Ende sowie der knappen, unprätentiösen und unideologischen Erzählweise, für die namentlich der ehemalige DDR-Bürger noch immer dankbar ist.

- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.