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Wecker hellwach: Weltmeister am Reck

Nach acht Silbermedaillen endlich ein Titel für den 25jährigen Berliner Turner

  • Lesedauer: 4 Min.

Foto: CAMERA 4

Der Reck-Weltmeister Andreas Wecker

Im Syndome von Sabae ging für den 25jährigen Andreas Wecker am Dienstag nach vielen Enttäuschungen mit acht zweiten Plätzen bei Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen endlich die Sonne auf. Goldmedaille, Blumen, Hymne - das alles kam für den bei den 31. Turn-WM frischgekürten Champion aus einer anderen

Welt. Erst Minuten später hatte er sich wieder unter Kontrolle, war Wecker wieder hellwach: „Nach achtmal Vize hat man die Schnauze voll.“

Schweißgebadet beschrieb der 25jährige Unteroffizier die Stunden, Minuten und Sekunden bis zum größten Triumph seiner Laufbahn. 18 Jahre hatte er davon geträumt, bei Weltmeisterschaften ganz oben auf dem Treppchen zu stehen. Am 10. Oktober, zwei Tage vor dem ersten Geburtstag seiner Tochter, hatte er sich, seine Nerven und seine Konkurren-

ten unter Kontrolle. Zwei Kovacs-Salti und die Tkatschew-Grätsche über der Stange, der Abgang bombensicher in den Stand. „Dieses Gefühl war riesig, ich wollte es gar nicht loslassen, blieb deshalb länger als erlaubt auf dem Podest.“

Die Minuten bis zur endgültigen Gewißheit erlebte der bei internationalen Meisterschaften mit nunmehr 21 Medaillen dekorierte Berliner „innerlich wie ein Vulkan“, weil noch drei Turner ans Gerät mußten. „Ich habe rückwärts gezählt. Vier, drei, zwei, eins -Weltmeister!“ Wecker war nach den Enttäuschungen im Mannschafts- und Einzelmehrkampf als Siebter bzw. Zehnter und dem fünften Platz an den Ringen topfit.

„Mindestens hundertmal habe ich die Übung in der Nacht in Gedanken durchgeturnt, dann ging beim Einturnen aber der Abgang daneben. Ich wußte: Nicht die Übung zählt, sondern nur der Abgang.“ Er sollte recht behalten.

Da hatte sich dann die Quälerei mit zuletzt 25 Stunden Training pro Woche endlich gelohnt. Nach vier Olympia-, neun WM-, sechs EM- und ei-

ner Weltcup-Medaille seit 1988 war Wecker endlich am großen Ziel. Er hatte lange und oft gekämpft, auch mit und gegen Lutz Landgraf, der ihn seit neun Jahren coacht. „Solche Erfolgstypen“, beschrieb ihn der Trainer, „sind nicht so pflegeleicht, bewegen sich ständig im psychologisch-psychischen Grenzbereich, flippen in Streßsituationen aus und schaffen sich damit immer wieder Probleme. Aber wir haben uns zuletzt gut zusammengerauft.“

Seit Wecker verheiratet und glücklicher Vater von Töchterchen Nathalie ist, hat er an Profil gewonnen, ist seltener der Polterer von einst. „Ich muß meine Familie grüßen, hallo, ich habe Euch ganz doll lieb“, sagte er im Fernsehen. Sein nächstes Ziel heißt Atlanta. Mit einer neuen Kür am Reck.

Nach Pleiten, Pech und Pannen fanden die Titelkämpfe in Japan aus deutscher Sicht einen versöhnlichen Abschluß. Doch in den Tagen zuvor hatte es viele sorgenvolle Gesichter gegeben. Beide Mannschaften erfüllten die in sie gesetzten Erwartungen nicht: Die Turner landeten auf einem enttäu-

schenden siebten, die Turnerinnen gar auf dem 13. Platz, der die Olympiateilnahme kostete. Im Mehrkampf kamen mit Waleri Belenki (5.) und Andreas Wecker (10.) zwar zwei unter die Top 10, „aber uns fehlt ein Siegertyp“, hatte Sportdirektor Wolfgang Willam vor dem Gold-Flug Wekkers gesagt. „Was zählt, ist nur die Medaille, und deshalb sind wir hier mit einem blauen Auge davongekommen. Aber dieser WM-Titel darf nicht von anderen aktuellen Problemen, speziell im Frauenturnern, ablenken.“ Immerhin hatte das „Unternehmen Sabae“ rund 200 000 Mark gekostet.

Weckers Goldcoup war der letzte Höhepunkt der ersten WM in Asien. Zu den Gewinnern zählten ganz sicher die Chinesen, auch wenn sie nur drei der von ihnen prognostizierten 13 Titel holten. Aber der Mannschafts- und Mehrkampftriumph von Li Xiaoshuang und der Sieg von Mo Huilan am Balken, ihr zweiter Rang am Barren sowie die Vizemeisterschaft der Frauen-Mannschaft lassen neue olympische Taten erahnen. „Königin“ unter den Stars und Sternchen war Lilia Podkopoajewa (Ukraine) mit dem Mehrkampf-Erfolg und beim Sprung sowie Silber am Barren und Balken.

Bei den Männern tat sich erneut der sechsfache Olympiasieger Witali Scherbo (Weißrußland) hervor, der seine Titelsammlung bei WM auf 14 erhöhte.

RAINER BENECKE, dpa

Gerätefinals: Männer, Sprung:

1. Nemow (Ruß) und Misutin (Ukr) beide 9,756, 3. Scherbo (Weißruß) 9,662. Barren: 1. Scherbo (Weißruß) 9,812, 2. Huang Liping (China) 9,750, 3. Tanaka (Japan) 9,725. Reck: 1. Wecker (Berlin) 9,812, 2. Hatakeda (Jap) 9,775, 3. Dounew (Bul) 9,750.

Frauen, Balken: 1. Mo Huilan (China) 9,900, 2. Podkopajewa (Ukr) und Moceanu (USA) beide 9,837 Boden: 1. Gogean (Rum) 9,825, 2. Ji üya (China) 9,675, 3. Furnon (Fra) 9,625.

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