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„Da muß er nun auch springen“

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Von diesem Zeitpunkt an begann ein Akt, der parteiintern schon seit Monaten erörtert und 'wohl auch vorbereitet worden war. In der auf Lafontaine folgenden Debatte am Mittwochnachmittag sprach eine sächsische Delegierte ein Wort, das fast alle Teilnehmer des Parteitages überraschte. Oskar habe sich so,weit aus dem Fenster gelehnt, da müsse er auch springen und für den Parteivorsitz kandidieren.

Das wurde zu dieser Zeit, gegen 17 Uhr, noch als belebender Scherz quittiert. Tatsächlich, so stellte sich gestern heraus, begannen um diese Zeit hinter den Kulissen die Gespräche einzelner Leute aus der Führung. Dieter, Spöri,, in Baden-Württemberg Landesvorsitzender, sagte gestern, er habe Lafontaine dazu bewegt, doch gegen Scharping zu kandidieren. Renate Schmidt, Bayerns Landesvorsitzende, will ebenfalls ab 17 Uhr mit Gesprächen zur Kandidatur Lafontaines begonnen haben.

Die Delegierten blieben vom Strippenziehen hinter Kulissen ausgegrenzt. Sie fuhren in das benachbarte Ludwigshafen zum Parteiabend. Sänger, Tänzerinnen, geistige Getränke sorgten für Stimmung. Trotzdem entstand irgendwo das Gefühl, hier finde eine Geisterveranstaltung statt. Streng abgeschirmt trafen sich Genossen aus der Führung in wechselnden Gruppen.

Am nächsten Morgen wird gemeldet, Johannes Rau, Ministerpräsident in Nordrhein-Westfalen, unterstütze eine Kandidatur Lafontaines. Sol-

che Nachricht überrascht Delegierte wie den Troß von Journalisten. Noch um acht Uhr morgens sagt der amtierende Geschäftsführer Franz Müntefering, er wisse von keiner Gegenkandidatur zu Scharping. Die Nachricht über Raus Ja zu Lafontaine wird von dem Verbreiter selbst dementiert.

Am Donnerstag brachte kurz nach 9 Uhr Rudolf Scharping Licht für die Gerüchteküche. Ungeplant bat er den Parteitag um Rederecht. Die Partei brauche Klarheit, sagte er: „Ich habe Oskar gefragt, ob er kandidiert.“ Der habe zugesagt. Scharping selbst verkündete, daß er den) vor 14 Tagen einstimmig angenommenen Vorschlag des Parteivorstandes folgen werde und ebenfalls kandidiere. Nach dieser Klarstellung wurde der Parteitag bis 10 Uhr unterbrochen.

Die Landesverbände versammelten sich. Der als rot bezeichnete Verband Hessen-Nord versuchte im offenen Plenarsaal eine geheime Beratung abzuhalten. Lauschende Journalisten wurden mit barschen Worten verjagt. Bei den Nordrhein-Westfalen scheiterte der Versuch, die Delegierten auf einen der beiden Kandidaten festzulegen. Scharping drehte inzwischen eine Runde durch die Ausstellungen der Ortsverbände im Mannheimer Kongreßzentrum. Einen Tip zum Wahlergebnis wollte er nicht abgeben, eine Frage über sei-

nen Verbleib im Fraktionsvorsitz des Bundestages bei einer Niederlage als Parteivorsitzender blieb unbeantwortet. Auf jeden Fall, so Scharping, werde der neugewählte Vorsitzende mit größerer Autorität ausgestattet sein.

Autorität hat Scharping in seinen reichlich zwei Jahren Amtszeit selbst verspielt. Allerdings nicht nur. An dem Abend, als damals die Ergebnisse der Mitgliederbefragung über den Vorsitzenden bekanntgegeben wurden, herrschte in der Bonner SPD-Zentrale eher gedrückte Stimmung. Die SPD-Mitglieder hatten sich für Scharping und gegen Gerhard Schröder sowie Heidemarie Wieczorek-Zeul entschieden. Schon an diesem Sommerabend war zu spüren, daß zumindest die Parteibürokratie mit diesem Mitgliederentscheid nicht glücklich war.

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