Neonazis in Erfurt: Zunehmend enthemmt

Wissenschaftliche Auswertung sieht Zivilgesellschaft von rechts unter Druck

  • Kai Budler
  • Lesedauer: 3 Min.
Die Gefahr wächst seit Jahren, nicht nur in Erfurt.
Die Gefahr wächst seit Jahren, nicht nur in Erfurt.

Für Aktive in der Arbeit gegen rechts in Erfurt sind die Kernaussagen einer neuen Analyse zu »organisiertem Rechtsextremismus und zivilgesellschaftlicher Gegenbewegung« keine Überraschung. Rechtsradikale Gruppen können laut der am Montag veröffentlichten Untersuchung in der Thüringer Landeshauptstadt erhebliche Raumgewinne verbuchen. Die Analyse des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft (IDZ) wurde von der Partnerschaft für Demokratie Erfurt in Auftrag gegeben, Herausgeberin ist die Stadt.

Grundlage sind Expert*innen-Interviews, eine Fokusgruppendiskussion und die wissenschaftliche Auswertung. Die beteiligten Wissenschaftler konstatieren eine massive extrem rechte »Landnahme«, die sich nicht nur auf Wahlergebnisse, Parlamente und die Präsenz neonazistischer Strukturen begrenzt. Sie zeige sich auch in einer gesellschaftlichen Normalisierung extrem rechter Positionen.

Landesweit gilt Erfurt als regionaler Schwerpunkt der extremen Rechten mit einer stabilen Szene. Nach Angaben der Opferberatungsstelle Ezra wurden nirgendwo in Thüringen in den vergangenen Jahren so viele rechte Angriffe und Gewalttaten erfasst wie in der Landeshauptstadt. Galt der Fokus der ersten Studie 2013 noch den klassischen neofaschistischen Strukturen, beschreiben Akteur*innen der Erfurter Zivilgesellschaft nun die AfD als die aktuell größte Herausforderung.

Besonders bei Aufmärschen und Kundgebungen werden die Verbindungen der AfD zu neonazistischen Akteur*innen und zum Protestmilieu der »Montagsdemonstrationen« deutlich. Hinzu kommt die Junge Alternative (JA) Thüringen, die mit dem Bundesverband Anfang des Jahres aufgelöst wurde. Auch ihr messen die für die Analyse Befragten »eine tragende Rolle im Kontext rechtsextremer Strukturen in Erfurt« zu. Zwei Mitglieder der ehemaligen JA Thüringen sitzen in kommunalen Gremien der Stadt.

Parallel dazu verlieren andere extrem rechte Parteien in Erfurt weiter an Bedeutung. Ihre Akteur*innen aber versuchen weiter, sich und ihre Strukturen in verschiedenen Ortsteilen zu etablieren. Hinzu kommen Überschneidungen zwischen AfD, rechten Kleinstparteien sowie den Milieus der verschwörungsideologischen Montagsdemonstrationen und der Reichsbürger*innen. Dies schlägt sich in brutalen Angriffen auf Geflüchtete, politisch Engagierte oder Orte demokratischer Kultur nieder.

Nahezu alle, die interviewt wurden, berichten von teils enthemmten Bedrohungen und Beleidigungen. Ein Zitat: »Mir wurde auch schon in der Straße gesagt: ›Ich weiß, wo du wohnst, du Zecke. Pass auf.‹« In ihrer rechtsextremen Ideologie sähen sich Täter*innen durch die Wahlerfolge der AfD bestätigt, sind die Interviewten überzeugt. Ordnungsbehörden oder Verantwortliche der Stadt nähmen das Thema Sicherheit zumindest teilweise noch nicht ernst genug, beklagen Betroffene. Auch Teile der Stadtgesellschaft sähen die Probleme nicht oder verharmlosten sie.

Gleichwohl gebe es in Erfurt auch eine vielfältige, gut vernetzte und breit aufgestellte Zivilgesellschaft, »die durch zahlreiche Aktivitäten in Erscheinung tritt und auf eine erfolgreiche Arbeit in den letzten Jahren blicken kann«, konstatieren die Autor*innen vom IDZ. Es fehle jedoch an einem kontinuierlichen Austausch. Hinzu kämen personelle Kapazitätsgrenzen und strukturelle Überlastungen.

Ein Interviewpartner beobachtet, »dass die Leute, die sich engagieren, sich sehr viel engagieren und auch schon so halb wissentlich ins Burn-out reinlaufen«. Der Stadtverwaltung wird noch viel »Luft nach oben« beim Willen attestiert, die Zivilgesellschaft zu unterstützen und extrem rechten Ideologien entgegenzutreten: Zu oft würden Verantwortlichkeiten auf zivilgesellschaftliche Strukturen abgewälzt.

Die Autor*innen regen Schutzkonzepte für Engagierte an und sprechen sich für die langfristige Absicherung demokratiefördernder Strukturen und Initiativen aus. Genau die aber stehen besonders im Visier der Thüringer AfD. In der kommenden Woche will sie im Landtag Gemeinnützigkeitsüberprüfungen oder gar Verbote gegen Bündnisse fordern, »die sich selbst als ›antifaschistisch‹ bezeichnen, Zuwendungen aus Landesprogrammen oder steuerfinanzierte Auszeichnungen (…) erhalten«. Der Druck auf die Zivilgesellschaft in Erfurt und anderswo dürfte also weiter steigen.

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