»Ich schau in den Spiegel und sehe meine Mutter. Ich wollte nie so werden wie sie.«
Silvia Ottow
Lesedauer: 5 Min.
Meine Mutter ist eine großartige Frau. Ich wollte nie so werden wie sie. Ein Widerspruch? Eher eine realistische Kurzformel für viele Beziehungen von Töchtern zu ihren Müttern. Beziehungen, die sich vor allem durch eines charakterisieren lassen: Ambivalenz.
Da gibt es die Geschichten von Frauen, die ihre Mütter hassen, weil diese sich nicht um sie kümmerten, sie verließen oder schlugen oder anderswie quälten oder auch einfach nur ignorierten. Die kennen wir aus den Gerichtsberichten in den Zeitungen oder aus der Nachbarschaft in der Straße, mitunter leider auch aus dem näheren Umfeld. Sie machen betroffen, erlauben es aber auf den ersten Blick leicht, eine Wertung zu treffen: Wer seine Tochter so behandelt, hat den Namen »Mutter« nicht verdient.
Diese Art der Bewertung kommt aus dem 18. Jahrhundert, als man allein die Mutter für das Kind verantwortlich machte. Sie hatte geduldig, sanftmütig, opferbereit, liebevoll zu sein. Man schrieb es ihrer Natur zu. Konnte sie das nicht, war sie keine Mutter, ganz im Gegensatz zum Vater. Der blieb das immer, egal, wie er sich benahm.
Ein anderes Extrem sind die Geschichten von Frauen, die ihre Mütter über alles lieben. Sie erscheinen einem eher normal, ja sogar erstrebenswert, aber oftmals enthalten sie nicht weniger Konfliktpotenzial als die vorher geschilderten. Die meisten Mütter leben mit ihren Töchtern aber aller Wahrscheinlichkeit nach auf einer Ebene, die irgendwo zwischen diesen Extremen angesiedelt ist.
Das heißt freilich nicht, dass ihnen die Probleme fehlten, die ergeben sich ganz zwangsläufig aus persönlicher Prädisposition, genetischen Ursprüngen, aber auch gesellschaftlichen Normen und historischer Entwicklung. Zerstörerisch müssen sie deswegen nicht sein.
Die Berliner Autorin Simone Schmollack hat 22 Frauen zwischen 24 und 49 Jahren über die Beziehungen zu ihrer Mutter befragt. Viele Lebensgeschichten erschrecken, zum Beispiel die der 37-jährigen Helen: »Ihr Griff zum Kochlöffel ist eine gewohnte Bewegung. Sie greift nach meinem Kopf, schiebt ihn zwischen ihre Knie und schlägt zu. Ein Mal, zwei Mal, drei Mal. Ich konnte noch nicht zählen. Aber ich hoffte mit jedem Schlag, es möge der letzte sein. Es ist sinnlos, den Schmerz wegzuträumen. Er ist da und bleibt. Minuten, Stunden, Tage. Der Kochlöffel saust auf mein nacktes Fleisch nieder, als klopfe er das frisch geklopfte Schnitzel, um es für die Bratpfanne platt zu machen. Das dumpfe Geräusch, jedes Mal, wenn das Holz auf meinem Hintern landet, überhöre ich. Es ist mir vertraut wie die hysterische Stimme meiner Mutter. Ich ertrage sie, die Schläge, ich ertrage alles, wie in Trance, um mich vor meiner Mutter zu schützen.«
Die durchprügelte Kindheit hat Helen geprägt. Sie hat sich später im Leben mit seinen unterschiedlichsten Beziehungsmustern nie zurecht finden können. Auf dem Nährboden der psychischen Beschwerden manifestieren sich schließlich körperliche Probleme, die zu überwinden ihr nicht gelingt. Auch dann nicht, als Helen erfährt, dass ihre Mutter als Kind vom eigenen Bruder sexuell missbraucht worden ist. Erlebte Gewalt, die sich in der nächsten Generation fortsetzt - das berüchtigte Kindheitsmuster, welches die Opfer so prägt, dass sie es zwanghaft in der nächsten Generation weiterleben, weiterprügeln?
Es gibt kaum andere Erklärungen für dieses schreckliche Phänomen. Nancy Friday schreibt in ihrem Buch »Wie meine Mutter«: »Egal wie wir das Netz von Emotionen zwischen uns und Anderen weben, häufig ist es geprägt von dem Muster, das zwischen ihr und uns besteht. Viele der Beziehungen, die wir als Erwachsene führen, enthalten Elemente der Mutter-Tochter Beziehung«. Das Versagen von Helens Mutter als Folge des Versagens ihrer eigenen Mutter, die es nicht vermochte, ihre Tochter vor den Übergriffen des Bruders zu schützen? Die Frage, weshalb eigene Gewalterfahrung eine Mutter nicht auf geradem Wege dazu bringt, ihre Tochter vor jeglicher Gewalt zu schützen, ist psychologisch nicht annähernd so ausführlich debattiert worden wie die Weitergabe der Muster. Was einem vertraut ist, wird weitergelebt - egal, ob es gut tat oder nicht. Allerdings wird allzu oft vergessen, dass noch andere Sozialisationsinstanzen am Aufwachsen des Kindes beteiligt sind, als nur die Mutter, auf deren »Schuld« problemhafte Entwicklungen aber nicht selten reduziert werden. Das Bild von der guten Mutter ist nach wie vor aktuell. Helen denkt in der Mitte ihres Lebens an Suizid, doch »Nein, so viel Macht soll meine Mutter nie besitzen.«
Johanna ist 29 und wurde antiautoritär erzogen. Sie durfte selbst entscheiden, ob sie sich die Zähne putzen, Schokolade an die weiße Wand schmieren oder mit einem Jungen schlafen möchte. Sie hat ihre Mutter dafür nicht respektiert: »Sie verlor ihre Stellung als anerkennenswerte Person, als ich begriff, wie lose ich bin, ohne Netz und ohne innere Sicherheit. Als ich merkte, dass sie mir niemals Halt geboten hat, dass sie mich machen ließ, wonach mir zu Mute war, obwohl sie es hätte besser wissen müssen. Ich werfe ihr ihre antiautoritäre Erziehung vor.« Die junge Frau machte alles anders als ihre ökologisch-alternative Mutter. Sie hängte Gardinen auf und legte einen Teppich aus. Für ihren Sohn gibt es klare Regeln und feste Essenzeiten. Johanna glaubt, dass ihre Mutter antiautoritäre Erziehung nur aus Furcht vor Auseinandersetzung wählte.
Die Geschichten von Johanna und Helen sind zwei Beispiele aus dem über 300-seitigen Buch, die ganz eindeutig die zuweilen unheilvolle Verkettung der Töchterleben mit denen der Mütter belegen. Zuweilen sind sie auch nur von Gleichgültigkeit geprägt, als wären Mutter und Tochter für eine gewisse Zeit lediglich Reisende in einem Zug. Unspektakuläre Fälle einer halbwegs vernünftigen, unbelasteten oder sogar von Liebe, Lust, Achtung und Neugier geprägten Mutter-Tochter Beziehung sind selten in der Sammlung der soziologisch interessierten Autorin. So selten wie im Leben? So selten wie in der Generation der heute 20- bis 50-Jährigen? Oder so selten, weil Eintracht beim Publikum nicht so sehr ankommt?
Sicher ist, dass die Mütter der befragten Frauen zumeist in einer Zeit hierarchisch geprägter Familien aufwuchsen, in denen sie sich dem männlichen Diktat beugten, ihre eigenen Wünsche verdrängten und verleugneten, Emotionen nicht zeigten. Diese Normen wirkten lange nach - im Osten wie im Westen, mitunter trifft man sie noch heute an, und ultrakonservative Positionen sähen gern eine Renaissance dieser Verhältnisse. Unsere Töchter werden das hoffentlich nicht zulassen. Sie haben auch ohne diese gesellschaftliche Einengung genügend Probleme mit ihren Müttern.
Simone Schmollack: Ich wollte nie so werden wie meine Mutter, Schwarzkopf & Schwarzkopf, 316 S., pb., 9,90 EUR
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