Fragwürdige Quelle zum Berija-Bild
Zu „Ein düsteres Bild retuschiert“ von Günter Rosenfeld (ND vom 23./24.12. 95)
Marfa verheiratet war, hatte sich (nach eigenen Aussagen während der späteren Ermittlungen gegen seinen Vater) seine Kandidaten- und Doktordissertationen von Mitarbeitern der theoretischen Abteilung des Konstruktionsbüros schreiben lassen...
Was Sergo Berija am düsteren Bild des einst mächtigsten NKWD-Chefs „retuschieren“ möchte, ist allerdings durch Quellen belegt, die um ein Mehrfaches glaubwürdiger sind als die Memoiren des hochprivilegierten Sohnes. Zu diesen Quellen gehören die 1991 in einem Sammelband im Verlag Polititscheskaja Literatura in Moskau erschienenen sehr unterschiedlichen Erinnerungen, Aufsätze und Dokumente mehr oder weniger prominenter Persönlichkeiten (deutsch: Berija. Henker in Stalins Diensten. Ende einer Karriere, hrsg. von V.F Nekras-
sow, edition q Verlags-GmbH, Berlin 1992).
Natürlich kann auch Sergo Berija die erwiesene Verantwortung seines Vaters für unzählige Verbrechen der Stalin-Diktatur (Historiker Wolkogonow- „Stalins Ungeheuer“) nicht leugnen. Aber allein das Anliegen des Sohnes, wie es Rosenfeld wiedergibt, „das düstere Bild, das von seinem Vater bisher existiert, aufzuhellen, und über ihn verbreitete .Unwahrheiten und Legenden' (so auch über wüste Gelage und Frauenaffairen) zu widerlegen“, ist mehr als suspekt.
„Er war durchweg ein Verbrecher“, urteilt Anna Larina Bucharina, die Witwe Nikolai Bucharins. Das gilt für Berijas (Un-)Taten in Aserbaidshan, Armenien und Georgien ebenso wie für jene in den höchsten Funktionen in Moskau verübten - darunter als Regisseur der Tragödie von Katyn, den
Anteil an der Ermordung Leo Trotzkis im August 1940 im mexikanischen Exil, an der Liquidierung der gesamten Familie Sergo Ordshonikidses nach dessen Selbstmord im Februar 1937 und an der Erschießung des legendären Marschalls Blücher im Arbeitszimmer Berijas nach lötägiger Folter im Herbst 1938.
Und auch die Vorgänge um Berijas spektakuläre Verhaftung am 26. Juni 1953 während einer Sitzung des Präsidiums des ZK der KPdSU im Kreml, die Sergo Berija nun zu „revidieren“ bemüht ist, sind durch viele Zeugen belegt, darunter die detaillierten Beschreibungen Kirill Moskalenkos, seinerzeit Chef des Moskauer Militärbezirks, der die Verhaftung im Auftrage Chrustschows und Malenkows vorbereitete und leitete. Über den Abtransport Berijas in die
Arrestanstalt des Militärbezirks Moskau z. B. schreibt Moskalenko: „Danach wurde Berija unter Bewachung hinausgebracht und auf dem Rücksitz eines SIS-110 von Batizki, Baksow, Sub und Juferew, die bewaffnet waren, in die Mitte genommen. Ich setzte mich neben den Fahrer. In einem zweiten Wagen befanden sich sechs Offiziere der Luftabwehr Mit diesen beiden Fahrzeugen passierten wir ohne Halt das Spasskitor...“ Nach Sergo Berija wären das alles ebenso reine Erfindungen wie auch die Erschießung Berijas im Betonbunker des Stabs des Moskauer Militärbezirks, die laut „sensationeller“ Darstellung des „Augenzeugen“ Sergo B. nicht nach dem Gerichtsverfahren am 23. Dezember 1953, sondern schon Monate vorher „auf der Stelle“ erfolgt sein soll: Danach wären die Akten des Gerichtsprozesses, die Unterla-
gen der Beweisaufnahme und die Aussagen des letzten noch lebenden Mitglieds des Sondergerichtskollegiums des Obersten Gerichts der UdSSR, M.I. Kutschawa, reine Fälschung, wenn er beschreibt, wie Berija vor Gericht stand und aussagte.
Und dann die „Frauenaffairen“ Berijas! Nach der Verhaftung des seit 1943 an Syphilis leidenden Berija fand man auch Dutzende Listen mit Namen von Berija vergewaltigter Frauen, darunter einer Schülerin der 7 Klasse; drei Viertel der Frauen waren Ehefrauen von Mitgliedern der Regierung...
Daß der Sohn auch dies unter „Unwahrheiten und Legenden“ verbucht haben möchte, scheint noch menschlich nachvollziehbar. Daß aber ND den „Erinnerungen“ Sergo Berijas so breiten Raum auf der Geschichts-Seite mit einem Bild widmet, das nicht den Henker, sondern das Kindermädchen in Stalins Diensten vermuten läßt, verwundert schon eher
HERBERT SCHWENK, 10369 Berlin
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