Investigativ beim Pieseln zusehen

Pressefreiheit in Gefahr?

  • Jürgen Reents
  • Lesedauer: ca. 2.0 Min.
Es ist nicht bekannt, ob Sigmund Gottlieb, Chefredakteur des Bayerischen Rundfunks, jemals wie Prinz Ernst August von Hannover auf der Expo 2000 gegen eine Pavillonwand uriniert hat. Seine journalistische Notdurft aber verrichtete er in dieser Woche mit einem Kommentar in den ARD-Tagesthemen. Und ihm gleich taten es die Intendanten von ARD und ZDF sowie 43 Chefredakteure - vom »Spiegel« und »Focus« über den »Playboy« bis zur »Bild«, von der »SuperIllu« über die »Bunte« bis zur »Berliner Zeitung« und der »Financial Times Deutschland«. Sie sehen die »Grundfeste unserer Demokratie bedroht - die Pressefreiheit«, weil der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) mit seinem so genannten »Caroline-Urteil« vom 24.Juni deutsche Boulevard-Medien wegen der Veröffentlichung von Fotografien aus dem Privatleben der Prinzessin von Hannover und Monaco gerügt hat. »Herr Bundeskanzler, stoppen Sie die Zensur!«, riefen sie empört, mit diesem Urteil seien »allen seriösen Journalisten die Hände gebunden«. Dem ist nicht so und die Bundesregierung hat gestern einen Einspruch gegen das Urteil abgelehnt. Mit gutem Recht: Der EGMR hat deutlich auf »Sensationsreporter« und auf Fotos von »Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens« abgehoben, die »ausschließlich (!) Einzelheiten ihres Privatlebens betreffen« und »nicht als Beitrag zu einer Debatte von allgemeinem öffentlichen Interesse angesehen werden« können. Hier rangiere der Schutz des Privatlebens vor der Pressefreiheit, zumal wenn es sich um Bilder handelt, »die sehr persönliche oder sogar intime Informationen über einen Menschen enthalten«. Die ungewöhnlich massiv und vereint auftretenden Streiter für die Grundfeste kümmert der Wortlaut des Gerichtsurteils hingegen wenig. Sie alarmieren mit einem pompösen Gemälde. Fortan könne auch eine aufklärende Berichterstattung wie zur Adlon-Affäre des Ex-Bundesbankpräsidenten Ernst Welteke oder zur Dienstvilla-Affäre des früheren Sachsen-Chefs Kurt Biedenkopf unter Verbot fallen. Dass ein Korruptionsverdacht jedoch »ausschließlich« die Intimsphäre berühre und nicht von öffentlichem Interesse sei, mag eigentlich nur Leuten einfallen, die prinzipiell selbst diverse Möglichkeiten haben, mit Steuer- oder Firmengeldern auf Schnäppchenjagd zu gehen. Dem EGMR-Urteil ist diese Sicht jedenfalls nicht zu unterstellen. Um auf Sigmund Gottlieb zurückzukommen: Er sieht den »seriösen investigativen Journalismus« wanken, wenn die Paparazzi-Presse keine Adeligen, Stars und Sternchen mehr durch ein Zaunloch beim Tätscheln oder Pieseln ablichten darf. Vom »journalistischen Trieb«, der sich einst vor Berufsantritt in ihm »Bahn brach«, spricht Gottlieb übrigens auf der Internetseite des Bayerischen Rundfunks. Ohne Attribut klänge das sehr glaubhaft. Investigation ist wohl nicht nur für viele Bouleva...

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