Wem gehört die Reform? Erkenne die Lage

Diese Regierung hat sich weit vom Volk entfernt - und es scheint, sie bildet sich noch was darauf ein

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: ca. 5.5 Min.
Die Ausgangsbedingungen sind hierzulande (hier zu Lande?) gar nicht so schlecht: Luther, Stein und Hardenberg, Bebel - Reformen haben dieses Land in entscheidenden geschichtlichen Momenten mehrmals über tiefe Gräben hinweggehoben. Denn das meint ja wohl Reform: einen Ausgleich schaffen, auseinanderstrebende Interessen neu zu einem Konsens bringen. Ständige Erneuerung durch Selbstkorrektur! Jede Reformation versichert sich ursprünglicher Absichten und misst die Gegenwart an diesen. Dann fällt es leichter, Ballast über Bord zu werfen. Was auch bedeutet, jede Reform beginnt als geistige Selbstverständigung. Erkenne die Lage!, heißt es bei Gottfried Benn. Irrtum eingeschlossen. Aber Irrtümer sind dazu da, korrigiert zu werden. Reformen sind immer Vitalitätsprüfungen für Gesellschaften. So etwas wie für den Einzelnen eine Krankheit. Überwindet er sie, lebt er nachher anders, raucht nicht mehr und isst mehr Gemüse? Die Krise als Chance zur Veränderung. Man muss Kontinuitäten aufkündigen, gerade wenn man etwas bewahren will. Neubau muss nicht immer Abriss bedeuten, Umbau ist oft sinnvoller. Auch das kann schmerzhaft sein, aber zur Erhaltung des Wesentlichen notwendig. Dieses Sich- Konzentrieren auf das Wesentliche, das man für die Zukunft bewahren will, ist der geistige Kern jeder Reform. All das findet in dem Deutschland von heute nicht statt, darum kann man von Reformen nicht sprechen. Es gibt keine Reform, nur bürokratische Rückzugsgefechte, Sozialabbau, der - und das ist ungleich schlimmer - mit einer zunehmenden staatlich legitimierten Freiheitsberaubung einhergeht. Oder worin besteht der Effekt, wenn ich beim Arzt zu allererst 10 Euro auf den Tisch lege? Darin, dass ich mich wie in einem Land fühle, das die Einführung der Sozialversicherung noch vor sich hat. Das ist das Gegenteil jenes Aufbruchsimpulses, den jede Reform auch vermitteln muss, wenn sie nicht als Enteignung auf Raten verstanden werden soll. Was auch heißt: Wer Kostensparen schon zur Reform erklärt, denunziert den Begriff Reform. Vor allem sollte eine Reform Frei-Räume eröffnen. Statt dessen wächst der staatliche Übergriff. Es beginnt scheinbar banal. Bahnchef und Kanzlerfreund Mehdorn verteidigt bis heute eine »Bahnpreisreform« (Preise kann man sowieso nicht »reformieren«, nur die Strukturen der Bahn), die in der Geschichte der Bahn einmalig ist. Von einer Reisendenfeindlichkeit wie sie sich nur Leute ausdenken können, die noch nie mit der Bahn gefahren sind. Flexibilität, Vereinfachung? Plötzlich ist der Reisende ein Gefangener von Zugbindungen und von zwanzig Durchführungsparagrafen im Kleingedruckten, die sämtlich zu Lasten des Bahnkunden gehen. Der Fahrkartenkauf wird zur komplizierten Transaktion, die Ewigkeiten dauert - aber Bahnschalter werden massenhaft geschlossen. In Kleinstädten gibt es gar keine Schalter mehr - man verweist aufs Internet oder Reisebüros. Die Bahn wird privat, aber sie will ihr Produkt weniger denn je an den Kunden bringen. Wenn nicht einmal mehr der simple Kapitalismus funktioniert, dann ist es wirklich ernst. Und was macht der Bundesverkehrsminister? Wenn Politik kein Gespür mehr dafür hat, wo Unmut wächst, wenn sie nur mit neuerlichen Tricks und bloßer Verschleierung reagiert, dann ist sie dabei, sich jeder Grundlage des Regierens zu berauen. Manfred Stolpe, der vormalige Superintendent, kann seinem Kanzler da einiges aus dem untergegangen deutschen Teilstaat berichten. Die bisher sichtbar gewordene Tendenz: Auf der einen Seite regiert eine wuchernde Bürokratie und auf der anderen Seite ein sich immer asozialer gebärdendes Kapital. Eine galoppierende Verwahrlosung der politischen Kultur. Die simple Tatsache: Man kann keine Reform gegen das Volk machen. Diejenigen, die Freiheit und Demokratie offensichtlich ebenso gedankenlos als rituelle Parolen vor sich her tragen wie einst die DDR-Staatspartei die ihren zum 1. Mai, setzen ein Pseudo-Reformwerk nach dem anderen in die Welt. Um deren Unzulänglichkeiten geht es. Es geht nicht um »bessere Marketingstrategien«, darum, sie dem Volk nur wieder etwas auf geschicktere Weise - »Alles halb so schlimm!« - anzudrehen. Was wir brauchen, ist eine echte Reform-Atmosphäre. Wenn die Zeiten härter werden - und das werden sie -, wenn wir weniger Geld ausgeben können, dann wollen wir als Souverän (und das nicht nur am Wahltag) ernst genommen werden, mitentscheiden darüber, wo gespart wird und wie. Das ist ein demokratischer Anspruch. Die, die mehr haben, können auch mehr abgeben. Eine simple Logik, die im Moment mit Hartz IV auf den Kopf gestellt wird. Demokratie aber, der jeglicher Gerechtigkeitssinn abhanden kommt, reduziert sich auf Verwaltung des Abbaus. Mit Reform hat das nichts zu tun. Reform stellt ein aus dem Gleichgewicht geratenes Verhältnis von Freiheit und Ordnung wieder her. Die Sozialdemokratie aber hält Freiheit und Gerechtigkeit für etwas, das man besten der Verwaltungsbürokratie übergibt. Mehr Selbstübernahme an Verantwortung? Als freier Autor quasi ein Kleinunternehmer, muss mich niemand darüber belehren, was Freiheit bedeutet. Ich schätze sie und bringe die Opfer, die sie fordert. Aber auch hier wächst beständig die Bürokratie, die Bedingungen verschlechtern sich. Die gewollte Freiheit gerät an Punkte, wo sie kaum mehr finanzierbar wird. Wenn die Regierung auf der einen Seite gegen die Versorgungsmentalität angeht, was richtig ist, muss sie auf der anderen Seite auch endlich wirkungsvoll Selbstständigkeit fördern. Aber eben das passiert nicht. Reform braucht einen erkennbaren Gestaltungswillen, die Vision einer Gesellschaft. Sonst verdient sie diesen Namen nicht. Und dabei kann sie nur umsetzen, was in Ansätzen bereits da ist. Die Rechtschreibreform zeigt, wie wenig dieses Bewusstsein existiert, dass Regieren heißt, dem Willen des Volkes zu dienen. Niemand will diese Reform, die ein Eingriff in ein gewachsenes Kulturgut ist. Was von solcherart »Neusprech« aus der Retorte zu halten ist, kann man in Victor Klemperers Klassiker über den Sprachtotalitarismus »LTI« nachlesen. Wird auch dieses Buch bald wie ganze Bibliotheken in neue Rechtschreibung umgeschrieben? Woran bilden wir uns, wenn nichts mehr sicher ist vor dem Zugriff bürokratischer Eintagsfliegen? Die Dudenreform vor hundert Jahren brachte die Vielfalt bestehender Schreibweisen in eine Einheit. Sie maß sich nicht an, Sprachentwicklung bestimmen zu können wie die Kultusministerkonferenz. Die Gebrüder Grimm erforschten und beobachteten akribisch Sprachentwicklung als einen Spiegel unseres geistigen Reichtums. Die Sprachreformer von heute zerstören Kultur, weil ihnen die elementarste Voraussetzung fehlt: Respekt vor dem Wort. »Es tut mir Leid« - das ist keineswegs nur eine Frage der Ästhetik, sondern des Inhalts. Die infantile Substantivierung stellt den gemeinten Inhalt auf den Kopf. Es geht also nicht ums Doppel-»s«, sondern darum, dass das Sprachbild nun nicht mehr das wiedergibt, was gemeint ist. Die verunstaltete Sprache entfremdet uns so von uns selbst. Aber die Schüler müssen doch schon längst so schreiben, heißt es dann sofort. Ein zynisches Argument, dass man erst diejenigen, auf die man administrativ Zugriff hat, gleichsam in Geiselhaft einer konstant von drei Viertel der Bevölkerung abgelehnten »Reform« nimmt - und bis heute mit Hinweis auf diesen Zustand jede Korrektur (Erkenne die Lage!) ablehnt. Diese Regierung hat sich weit vom Volk entfernt - und es scheint, sie bildet sich noch was darauf ein. Aber wohin es führt, wenn die politische Macht Konsequenz mit Starrsinn verwechselt, ...

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