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  • Politik
  • Dietmar Seyffert schuf eine Choreographie für die Olympischen Spiele in Atlanta

Tanz ist Humanisierung von Bewegung

  • Lesedauer: 4 Min.

Prof. Dietmar Seyffert ist Leiter der Ausbildung für Choreographen an der Hochschule für Schauspielkunst »Ernst Busch« Berlin und Präsident des Tanzkomitees im Internationalen Theater-Institut (UNESCO)

Foto:

Joachim Fieguth

In Atlanta werden viele Länder durch abendfüllende Kulturprojekte außerhalb der Sportwettkämpfe vertreten sein: die Holländer mit Kilyan Nederland dance theater, die Franzosen mit der Pariser Oper. Das deutsche Programm besteht aus zwei Tanzschöpfungen Dietmar Seyfferts.

? Wie kam es dazu?

Ich hatte zum Welttanzkongreß 1995 in San Francisco die Abschlußveranstaltung inszeniert. Meine Choreographie »Clown Gottes« hatte dort sehr viel Erfolg, Standing ovations. Ein halbes Jahr später bekam ich die Einladung aus den USA über das Goethe-Institut. Aber natürlich wurde Walther Tröger, der Präsident des deutschen NOK, mit einbezogen. Auch die Berliner Politiker haben die Ent-

Scheidung sehr unterstützt. Das Unternehmen wurde weitgehend aus der Klassenlotterie finanziert. Nun kann Berlin, nachdem es einige Millionen für die Olympia-Bewerbung verpulvert hat, in Atlanta doch noch auf sich aufmerksam machen.

? Worum geht es in Ihrer Choreographie?

Wir bringen den schon genannten »Clown Gottes«, eine Hommage an Waslaw Nijinsky, den wohl bedeutendsten Tänzer unseres Jahrhunderts. Sein Schicksal hat mich sehr berührt: Er hat so intensiv gelebt und getanzt, daß er für den Rest seines Lebens ins Irrenhaus mußte. Und natürlich kommt eine neue Choreographie hinzu, »Über das Marionettentheater«, die Tanz, Marionette,

Schauspiel, Gesang zusammenführt.

? Der Titel klingt nach einem Text Heinrich von Kleists.

Ist es auch. Wer wäre deutscher als er, obwohl seine Stücke - wie ich meine - in Deutschland zu wenig gespielt werden. Es ist ein Essay-Dialog, der auf mich immer schon eine große Faszination ausübte und jetzt, wieder gelesen, auch eine erschreckend aktuelle Auseinandersetzung zum Thema Mensch-Technik darstellt. Es wird ja in diesem Text von einer Person behauptet, daß die Marionette

tänzerisch dem Mensch-Tänzer überlegen sei. Klar, wenn eine Marionette in die Luft springt, kann sie dort sehr lange gehalten werden, weil für sie - scheinbar - die Schwerkraft nicht gilt. Und später wird sogar behauptet, daß die Marionette in ihren Bewegungen glaubhafter sei, eine »reinere Seele«, die mehr Grazie hätte. Das reizt einen Choreographen. Und immer steckt auch die Frage drin: Sind wir, die Menschen, nicht auch irgendwie Marionetten, manipuliert durch Staatsräson, Umwelt, Geld?

? Wie muß man sich das vorstellen: Da tanzt eine Marionette mit?

Drei. Sie sind bis aufs kleinste Detail dem Tänzer, der Kleist verkörpert, nachgebildet und werden von Puppenspielern aus 7,60 Meter Höhe geführt - eine Riesenarbeit. Meines Wissens wurden in dieser Größenordnung Marionetten noch nie gebaut und geführt, es mußten spezielle Gelenke, Flaschenzüge und Rollen entwickelt und verbaut werden, um die Marionette für unseren Zweck technisch beweglich zu gestalten. Die Puppenspieler sind Suse Wächter, Atif Hussein und Ingo Mewes, Studenten der Hochschule für Schauspielkunst »Ernst Busch«, Co-Regie führt Manfred Karge - ein großes Ge-

meinschaftsproj ekf.

? Und wer verkörpert Kleist? Gregor Seyffert.

? Er ist bekanntlich Solist an der Komischen Oper, zählt zu den Großen des internationalen Balletts und bekam die Nominierung des Prix de Benois, eine Art Oscar des Tanzes, und viele Goldmedaillen bei internationalen Konkursen der Tänzer. Was schätzt der Vater am Sohn besonders?

Daß er nicht nur ein glänzender Techniker ist, sondern auch ein ausdruckstarker Schauspieler, der die seelische Befindlichkeit einer Figur körperlich-gestisch und in der tänzerischen Bewegung intensiv vermittelt. Das ist selten geworden auf der europäischen und auch der US-amerikanischen Tanzszene wie in den Choreographien. Tanz ist, denke ich, nicht nur perfektionierte Technik, sondern er hat viel mit dem Menschen zu tun: seinen Gefühlen, seinem Denken, seinen Konflikten. Tanz ist Humanisierung von Bewegung, von Form.

Fragen: Klaus Pfützner

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