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? Das einzige, was bleibt

Jugendliche arbeiten und lernen in der Gedenkstatte des ehemaligen KZ Buchenwald

  • Lesedauer: 4 Min.

Von Peter Liebers

Unter dicht belaubten Eschen wuchern am Hang des Ettersberges Brennesseln über Schuttberge, an lichten Stellen spreizen sich Heckenrosen mit spärlichen rosa Blüten, und hin und wieder huscht eine Amsel durch das Unterholz. Man wähnt sich in einem verwilderten Park und steht doch auf blut- und tränengetränkter Erde. Die Natur hat das Areal des »Kleinen Lagers«, des grausigsten Teils des KZ-Buchenwald, mit mildem Grün bedeckt. Am Waldrand legen Jugendliche mühevoll Fundamentreste und Straßenrelikte frei, setzen Markierungspfähle und schaufeln Schutt beiseite.

Die 24 jungen Leute im Alter zwischen 16 und 31 Jahren, Teilnehmer eines Workcamps von Service Civil International (SCI) aus 13 Ländern, stoßen dabei immer wieder auf kleine Anhänger, Knöpfe, Reste von Toilettenartikeln, Pfeifenköpfe, Dominosteine und verschiedene Gebrauchsgegenstände. In vielen Fäl-

len ist solch eine Kleinigkeit das letzte, das von einem Menschen blieb, der hier kläglich zugrunde gegangen ist. Zugleich belegen sie, daß die wie Tiere gehaltenen Häftlinge dennoch ein winziges Stück Intimität für sich zu bewahren suchten.

Er sei hierher gekommen, um die Gefühle kennen zu lernen, die ihn an dem Platz bewegen, an dem so viele Menschen umgekommen sind, sagt Dafni Ruscetta. Der 23jährige Geschichtsstudent aus Turin ist besonders davon angetan, daß auch die Möglichkeit zu Gesprächen mit Zeitzeugen, sowohl ehemaligen KZ-Häftlingen, als auch Internierten aus dem sowjetischen Speziallager besteht. Nebenher versucht er, möglichst viele Eindrükke im Foto festzuhalten, um sie seiner »zukünftigen Tochter« zu zeigen. Möglicherweise werde er auch in Turin eine Ausstellung damit gestalten, weil das Thema in italienischen Schulen keine Rolle spiele. Für den 21jährigen Michal Barzczak aus Bydgoszcz, der ein Managerstudium absolviert, ist die Arbeit »ein Akt des Respekts für Menschen, die hier gelitten haben.« Er möchte verstehen,

wie so etwas geschehen konnte und ist von der Größe der Folterstätte entsetzt. Für die meisten älteren Polen sei die deutsche Sprache gleichbedeutend mit Geschrei und Haß, deshalb sei er besonders froh, hier Freunde unter Deutschen gefunden zu haben.

Die Studentin der Theaterwissenschaften Eva Merkel aus Rathenow hat die Gelegenheit genutzt, sich mit den Selbstinszenierungspraktiken der Nazis zu beschäftigen und dabei fatale Analogien zu DDR-Gepflogenheiten entdeckt. Marlies Stücker, eine angehende Grundschullehrerin aus Eilenburg, möchte dazu beitragen, »daß die Menschen nicht vergessen, was geschehen ist«. Ihre Mutter hat noch miterlebt, wie zwei Häftlinge auf dem Todesmarsch erschossen wurden. Sie habe in der DDR zwar viel über Geschichte gelernt, aber vieles sei auch in die falsche Richtung dirigiert worden. Deshalb finde sie es gut, das Gedenkstättenarchiv nutzen zu können und dabei auch etwas über vergessene Häftlingsgruppen oder Menschen wie Dietrich Bonhoeffer zu erfahren.

Den 23jährigen Schweizer Geschichtsstudenten Kuno Bucher haben dagegen die Biografien der SS-Mannschaften beschäftigt. Dabei fand er unter anderem heraus, daß viele gescheiterte Lehrer darunter waren, die Defizite zu bewältigen hatten oder »persönliche Rechnungen begleichen« wollten.

Für den Leiter der Jugendbegegnungsstätte in Buchenwald, Dr. Helmut Rook, ist der 96er Sommer mit seinen vier Workcamps der bisher produktivste gewesen. Ihm ist sehr wichtig, daß entsprechend der Gedenkstättenkonzeption mit der Arbeit am Kleinen Lager begonnen wurde. Dieser Teil des KZ war bisher ein vergessener Ort. Als exemplarischer Beleg für die unvorstellbaren Verhältnisse, die dort herrschten, wurden jetzt die Reste der 60 Meter langen Latrine freigelegt, die für 28 000 Häftlinge ausreichen mußte, die in Wehrmachtspferdeställen hausten. In den rund 40 Meter langen und 9,50 Meter breiten Ställen waren jeweils zwischen 1200 und 2000 Menschen zusammengepfercht. Im März 1945 vegetierten hier 28 000 Menschen, während im großen Lager »nur noch« 20 000 lebten.

Zu DDR-Zeiten war das Kleine Lager mit seinen Siechen-, Seuchen- und Sterbehäusern, auch mit dem Häftlingskino, dem. .».Kinderblock.«., und dem..Bordell, kein Thema. Es paßte nicht in die heroisierende Gedenkstättenkonzeption, wurde teilweise zugeschüttet, als Müllkippe benutzt oder vom Wald überwuchert. Das ganze Areal wieder freizulegen, erweist sich als unmöglich. Deshalb sollen die Grundrisse der einstigen Gebäude, die wahllos in die Gegend gebaut waren, vermessen und markiert werden. In den kommenden Jahren wird sich der Schwerpunkt der Arbeit in den Workcamps, die seit 1990 stattfinden und von SCI begonnen wurden, verändern. Während bisher vor allem Ausgrabungsarbeiten vorgenommen wurden, gilt es künftig, die freigelegten Zeitzeugnisse zu pflegen und zu erhalten.

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