Jesus und Tiberius

Leseprobe

Die Geschichte des Galiläers Jesus entstand nicht in einem historischen Vakuum. Sie gehört in die antike Geschichte ebenso wie das Leben des Augustus, unter dem er geboren wurde, und des Tiberius, unter dem er öffentlich auftrat und getötet wurde. Darum geht es in diesem Buch: das Panorama einer parallelen Geschichte zu entwickeln, in der Jesus von Nazareth nicht anders behandelt wird als der römische Kaiser Tiberius... Die parallele Zeitgeschichte beginnt bereits mit der Geburt Jesu: Jesus wurde nicht im Jahr 0 geboren, sondern im Winter 7 v. Chr., unter dem Amtsvorgänger des Tiberius, jenem Gaius Iulius Caesar Octavianus, den man seit 27 v. Chr. »Augustus« nannte, auf deutsch den »Anbetungswürdigen«, und der in der Weihnachtsgeschichte des Lukasevangeliums eine Nebenrolle spielt (Lukas 2,1). Zu dieser Zeit war Tiberius Claudius Nero - so sein vollständiger Name - dreiunddreißig Jahre alt und noch einundzwanzig Jahre von seinem Machtantritt als Nachfolger des Augustus entfernt. Er war bereits »Pontifex«, also ein Mitglied des Priesterkollegiums, das die Aufsicht über Religion und Kultus innehatte... Ein Jahr vor der Geburt Jesu in Bethlehem wurde er Befehlshaber der Truppen in Germanien und feierte am 1. Januar 7 v. Chr. den »Triumph ex Germania«, den Festzug vom Marsfeld über das Forum zum Kapitol, der einem siegreichen Feldherrn als höchste Ehre gewährt wurde: Tiberius war es, der in den Jahren vor der katastrophalen Niederlage des Varus gegen Hermann (Arminius) den Cherusker die römischen Truppen noch siegreich über den Rhein und die Elbe hinausgeführt hatte. Die Jugend Jesu, sein öffentliches Wirken und seine durch den Präfekten Pilatus am 7. April 30 n. Chr. nach den Regeln römischen Rechts bewirkte Hinrichtung geschahen zu Lebzeiten dieses Tiberius und seit 14 n. Chr. unter dessen Kaiserherrschaft. Der Kaiser, 42 v. Chr. geboren, überlebte den in seinem Namen gekreuzigten Jesus um fast sieben Jahre; Tiberius starb am 16. März 37 n. Chr. in Misenum am Nordrand des Golfs von Neapel. Als Tiberius seinen Vorgänger und Adoptivvater Augustus am 17. September 14 n. Chr. vom Senat zum »Divus«, zum Vergöttlichten, ausrufen ließ, wurde er selbst »Filius Divi«, Sohn des Göttlichen. Im griechischsprachigen Osten lautete diese Bezeichnung schon viel eindeutiger »Hyios Theou«, Sohn Gottes. Das entsprach wörtlich dem Titel, den schon der noch ungeborene Jesus im Lukasevangelium erhält (Lukas 1,35). So gab es im Bewußtsein der ersten Christen offensichtlich die politische und religiöse Konkurrenz zweier »Söhne Gottes«. Es ging also sehr früh schon um Machtkämpfe, um Religionspolitik, Intrigen und um den tödlichen Konflikt des römischen Kaiserkults mit dem jüdischen Gottes- und Messiasglauben... Bei einer »parallelen« Betrachtung der beiden auf den ersten Blick unvergleichbaren Kontrahenten werden die Konturen schärfer erkennbar; und auf diese Weise können nicht nur Tiberius und das Römische Reich ganz anders als üblich gesehen werden. Es ist auch möglich, Jesus und seine Rolle aus Sicht der Juden und der Römer zu verstehen. Damit gerät manches verschüttete Quellenmaterial wieder in den Blick. Und im Vergleich der Quellen über Tiberius stellt sich heraus, daß die Dokumente über Jesus nach gleichen Maßstäben verfaßt sind. Mit anderen Worten: Wir befinden uns nicht auf einem ungleichen Terrain, mit einem Kaiser und einem am äußersten Rand des Imperiums hingerichteten Juden. Der Konflikt zweier Söhne Gottes wird erkennbar als ...

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