Turmbesteigung als Therapie bei Höhenangst

  • Walter Willems
  • Lesedauer: 3 Min.

Zwölf Millionen Menschen im deutschsprachigen Raum sind von Angsterkrankungen betroffen. Experten raten bei diesem Krankheitsbild zur Verhaltenstherapie.
Der Naturforscher Charles Darwin wurde von Panikattacken heimgesucht, die Sängerin Barbra Streisand traute sich jahrelang nicht mehr auf die Bühne, und auch der Begründer der Psychoanalyse, Sigmund Freud, litt unter Angst.
Etwa jeder sechste Bundesbürger werde im Laufe seines Lebens mit einer solchen Störung konfrontiert, schätzt der Göttinger Angstforscher Professor Borwin Bandelow, der gerade ein Buch zum Thema veröffentlicht hat. Frauen sind etwa doppelt so häufig betroffen wie Männer. Reale Ängste wie etwa vor Krankheit oder bei Bedrohung sind nach Ansicht Bandelows nützlich und überlebenswichtig. Absurde, übertriebene Furcht wie etwa die vor Spinnen oder Menschenmengen können dagegen das Leben stark beeinträchtigen.
Bandelow unterscheidet vier Hauptgruppen solcher Ängste: Bei der Panikstörung treten urplötzlich starke Angstgefühle auf, begleitet von Symptomen wie Herzrasen, Schwitzen oder Schwindel. Menschen mit generalisierten Angststörungen machen sich dagegen ständig Sorgen, um die Kinder, um den Partner, um Angehörige. Die Dauerbelastung beeinträchtigt nicht nur das seelische Wohlbefinden, sondern kann auch körperliche Symptomen wie Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit oder Muskelschmerzen verursachen. Die soziale Phobie zeichnet sich durch die Angst davor aus, in einer Gruppe im Mittelpunkt zu stehen, selbst wenn es sich um den engsten Freundeskreis handelt. Bei der spezifischen Phobie löst dagegen ein bestimmter Reiz wie Spinnen oder große Höhe die Angstreaktion aus.
Auffällig ist, dass Angsterkrankungen eher junge Menschen heimsuchen. Die meisten Patienten Bandelows sind zwischen 20 und 45 Jahre alt, der Durchschnitt liegt bei 36 Jahren. Die Ursache des Problems sieht der Forscher in einem Zusammenspiel von Erbanlagen, biochemischen Faktoren im Gehirn und sozialen Einflüssen. So erhöhen belastende Ereignisse in der Kindheit wie sexueller Missbrauch oder im Erwachsenenalter wie Scheidung die Anfälligkeit für Angsterkrankungen. Die Ängste fangen meist schleichend an, beeinträchtigen dann aber zunehmend das soziale und berufliche Leben.
Die Betroffenen meiden etwa öffentliche Orte wie Restaurants oder Einkaufsmärkte oder scheuen soziale Beziehungen. »Die Patienten sind oft sehr einsam«, sagt Bandelow. Zudem sieht der Experte in Angststörungen einen Hauptgrund für Alkoholismus. »Ungefähr die Hälfte der Alkoholiker hat Angsterkrankungen«, schätzt er. Spätestens wenn die Angst das Leben lähmt, so rät Bandelow, sollte man Hilfe bei einem Facharzt suchen. Das ist keinesfalls selbstverständlich, denn bei Patienten mit Panikstörungen vergehen durchschnittlich 3,5 Jahre bis die richtige Diagnose steht. Diese Verzögerung ist umso ärgerlicher, weil sich die Störung - einmal erkannt - sehr zuverlässig heilen lässt.
Zur Behandlung empfiehlt Bandelow in den meisten Fällen eine Kombination aus Verhaltenstherapie und Antidepressiva. »Die meisten Patienten haben nach zwölf Wochen keine Sym-
ptome mehr«, berichtet der Mediziner. Von anderen Verfahren wie etwa Psychoanalyse rät er dagegen dringend ab: »Es gibt keine einzige kontrollierte Studie, die zeigt, dass eine Psychoanalyse besser wirkt als Nichtstun.« Zu der Verhaltenstherapie können die Patienten auch selbst beitragen. Die Technik ist simpel und besteht darin, sich gezielt mit der Angst zu konfrontieren. »Wer Spinnenangst hat, muss sich Spinnen über den Unterarm laufen lassen«, sagt Bandelow, und Patienten mit Angst vor Menschenmassen sollen so lange durch Kaufhäuser oder Fußgängerzonen ziehen, bis die Panik verflogen ist.
Den Nutzen dieser Konfrontationsbehandlung erkannte vor fast 200 Jahren schon Johann Wolfgang von Goethe. Der Dichter kurierte seine Höhenphobie, indem er die Spitze eines Kirchturms bestieg. »Dergleichen Angst und Qual wiederholte ich so oft, bis der Eindruck mir ganz gleichgültig war«, schrieb er.


INFO
Internet: www.angstauskunft.de; Angebot von Dr. Dr. med. Herbert Mück (Köln), ärztlicher Psychotherapeut und Wissenschaftsjournalist E-Mail: kontakt@angst-auskunft.de

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