- Kultur
- DESCARTES' IRRTUM
Ich denke, also bin ich...
Einen neuen Versuch der Erklärung des Seelischen, des Geistes, der Subjektivität aus den Strukturen und Funktionsweisen des Nervensystems unternimmt Antonio Damasio. Sein Ziel ist es, den philosophischen Subjekt-Objekt-Widerspruch zu überwinden, und zwar im Sinne der materialistischen Lösung: Da ist zuerst die Substanz, die Natur, das Sein, dann das Denken, Fühlen, Empfinden, Bewußtsein, das Selbst, die Subjektivität. Antonio Damasio bezeichnet sich selbst nicht als Materialisten. Was er-als Neurologe und Neuro-,b|plpg% in fleißiger Arbeit leisten kann, bewertet er als »nichtbewiesene Hypothesen«. Doch muß man anerkennen, daß er zur Lösung des erkenntnistheoretischen Problems wesentliche naturwissenschaftliche Beiträge leistet.
Damasio greift jedoch hoch, wenn er schon im Titel kundtut, Descartes auszuhebein. Im Text wird das Thema erst auf den letzten Seiten vertieft, so daß es ein wenig aufgesetzt .erscheint. Ansonsten liefert der Autor Ergebnisse gründlicher Arbeit und vertieften Nachdenkens. Methodisch geht er vor wie die Experten seit über 100 Jahren: Genaues neurologisches und psychopathologisches Studium von Patienten, die Hirndefekte erlitten haben.
Damasio will alles, was über das menschliche Stirnhirn in Vergangenheit und Gegenwart erkundet wurde, neu durchdenken - und einiges erstmals gründlich. Die Ausfallssymptome des Stirnhirns waren lange vernachlässigt worden (allerdings nicht ganz so lange, wie der unbefangene Leser annehmen könnte). In den Stirnlappen sind nicht nur einfache Sinneswahrnehmungen und Bewegungsfolgen wie in anderen Bereichen lokalisiert, sondern hochkomplexe und sehr menschliche Erlebnis- und Verhaltensweisen: Gefühle, Voraussetzungen für Entscheidungsfindung und Sozialverhalten, auch für vorausschauende Planung und Zukunftsorientierung - alles wesentliche Konstituenten von Geist und Bewußtsein; letztere allerdings nur im Zu-
Antomo R. Damasio: Descartes' Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn. Aus dem Engl. von Hainer Koberr Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1997. 383 S., br., 22,90 DM.
sammenklang der gesamten Hirnaktivität. Darüber stellt der Autor umfangreiche Betrachtungen an. Er geht betont von einem eigenen Begriff von Empfindung aus. Dagegen haben Intelligenz und Sprache bei ihm einen relativ geringen Stellenwert. Beim Aufbau des Ich wird dem Körper und seiner inneren Wahrnehmung eine gro-ße Bedeutung beigemessen, mehr als der äußeren Erfahrung. Das Gefühl erhält dabei einen hohen Rang; die Gefühlstheorie ist jedoch rational.
Damasio, wie viele westliche Hirntheoretiker, meidet die Nennung eines großen
Vorgängers, dessen Konzept der höheren Nerventätigkeit jedoch überall - auch bei ihm - durchklingt: Pawlow.
Zu Descartes noch ein Wort. Wie wäre es, wenn man ihn beugte: Ich denke, also bin ich; Du denkst, also bist Du; wir denken, also...! Aber auch das wird von den Erzphilosophen wohl verworfen werden, als unzureichend durchdacht. Die europäische dualistische Denktradition seit Descartes wird wohl trotz Damasio und anderen sich noch eine Weile behaupten. Dafür sprechen zumindest gegenwärtig wieder viele Zeichen. Um so mutiger, verdienstvoller und anerkennenswerter ist dieses Buch.
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