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  • Politik
  • Vor 75 Jahren wurde Stalin Generalsekretär des ZK der Bolschewiki

Der Weg war frei - für eine finstere Gestalt

  • Wolfgang Rüge, Potsdam
  • Lesedauer: 7 Min.

Lenin und Stalin in Gorki, 1922

Foto: ND-Archiv

Nur wenigen historischen Weichenstellungen ist von Zeitzeugen so geringe Beachtung geschenkt worden, wie der Wahl des Politbüromitglieds Stalin zum Generalsekretär des Zentralkomitees der RKP(B) auf dem ZK-Plenum am 3. April 1922. Der sowjetischen Presse war dieses Ereignis nur ein paar Zeilen wert. Ausländische Kommunisten, denen der Name Stalin bis Ende der 20er Jahre kaum etwas sagte, beeindruckte diese Mitteilung nicht. Die übrige Welt nahm sie nicht einmal zur Kenntnis.

Noch heute ist schwer zu sagen, ob der einmal in Gang gesetzte Lauf der Sowjetgeschichte an jenem 3. April einfach weiterging oder ob ihm damals eine andere Richtung gegeben wurde. Sicher ist aber, daß der ZK-Entscheidung überragende personelle Bedeutung zukam. Der Gekürte, der sich bis dahin mit einem Platz in der Führungsriege der Partei begnügen mußte, konnte sich nach dieser Wahl mit einigen Erfolgsaussichten das Ziel stellen, die Spitze der sowjetischen Herrschaftspyramide zu erklimmen.

Sowjetrußland befand sich 1922 nach Beendigung des Bürgerkrieges, der Bewältigung der Hunger- und Aufstandskrisen des Vorjahres und dem Anlaufen der neuen ökonomischen Politik im Umbruch. Die alle Machthebel bedienende Partei sah sich nie dagewesenen Herausforderungen gegenüber Ihr spontan gewachsener Apparat war schwerfällig und verbürokratisiert. Er mußte auf neue Aufgaben eingestellt und effizienter gestaltet werden. So reifte der Gedanke im ZK, einen Organisationsta.ch.mann einzusetzen, der das möglichst reibungslose, Leerlauf ausschließende Funktionieren des Parteigetriebes gewährleisten sollte. Daß dem neuen Amt kein besonderes politisches Gewicht zugemessen wurde, geht schon daraus hervor, daß Lenin, der sich oft auch zu drittrangigen Fragen äußerte, nicht zur Nominierung des einzigen Kandidaten für das neue Amt Stellung nahm.

Den Vorschlag, Stalin zum Generalsekretär zu wählen, unterbreitete Kamenew, der Stellvertreter Lenins im Rat der Volkskommissare, der auch die Politbürositzungen leitete, wenn Wladimir IIjitsch verhindert war. Kamenew, den Stalin 14 Jahre später ermorden ließ, mag gedacht haben, daß Stalin, der an den Fronten des Bürgerkrieges als rigoros durchgreifender Bevollmächtigter des ZK

von sich reden gemacht hatte, der rechte Mann für die Neuordnung des Apparates sei. Zudem durfte Kamenew annehmen, daß der zweifache Volkskommissar sowohl die Basisprobleme als auch die Schwachstellen der Verwaltung aus dem Effeff kannte. War doch der aus dem Völkergemisch des Kaukasus stammende Georgier Stalin unmittelbar nach der Oktoberrevolution zum Nationalitätenkommissar und im März 1919 - auf Anregung des 1936 ebenfalls ermordeten Sinowjew - zum Kommissar der Arbeiter- und Bauerninspektion (Rabkrin) bestellt worden. Da er seinen Kandidaten als energischen Praktiker schätzte, der sich stets auf die Seite des unumstrittenen Parteiführers

schlug und offenbar auch künftig keine Machtansprüche anmelden würde, übersah der von sich überzeugte Kamenew, daß sich dieses Kommissariat, das zur Bekämpfung von Unfähigkeit, Amtsmißbrauch und Korruption gebildet worden war, selbst zu einer superbürokratischen Behörde entwickelt hatte; ein knappes Jahr später schrieb Lenin, die Rabkrin genieße als miserabelste aller Sowjetinstitutionen »nicht die geringste Autorität«.

Zweifellos imponierte Kamenew auch die vorgeschützte Bescheidenheit Stalins, der seinen Ruf der Selbstlosigkeit seit seinem Eintritt in die Partei mit wahrhaft orientalischer List gepflegt hatte. Zu den

Bolschewiki war Stalin gestoßen, weil sich ihm - dem durch Armut und Zugehörigkeit zu einer unterdrückten Nation doppelt Erniedrigten - allein in einer internationalistisch orientierten radikalen Umsturzpartei ein Aufstiegschancen verheißendes Betätigungsfeld bot. Dabei hatte er von Anfang an begriffen, daß er sich nicht mit den weitgehend europäisierten Theoretikern in der Parteispitze messen und deren Anerkennung nur erwerben konnte, wenn er als unbeugsamer und mit allen Techniken des Kampfes vertrauter Revolutionssoldat auftrat. In dieser Rolle hatte er zunächst auch Lenin beeindruckt, der erst später (und zwar zu spät, nämlich als er todkrank und zu wirksamer Gegenwehr unfähig war) erkannte, daß der intolerante, illoyale, launenhafte Grobian, der »unermeßliche Macht« in seinen Händen konzentrierte, nicht auf dem Posten des Generalsekretärs^geduldet« werden könne.

Als kurz nach dieser nicht mehr an die Öffentlichkeit gelangten Mahnung der Kampf um Lenins Nachfolge in die entscheidende Phase trat, verließ sich Stalin weiterhin darauf, von seiner Umgebung unterschätzt zu werden. In der »Troika«, in der er sich mit Sinowjew und Kamenew gegen Trotzki verbündete, beließ er seine beiden Gönner in dem Glauben, die »geistigen Köpfe« der Partei zu sein und selbst lediglich für die Schmutz- und' Kleinarbeit zur Verfügung zu stehen. Dann entledigte er sich jedoch, nun auf Bucharin gestützt, seiner Bundesgenossen und brachte anschließend auch diesen Verbündeten zu Fall - 1938 ließ er ihn in gleicher Weise erschießen. Erst nachdem er so seine gefährlichsten Rivalen ausgebootet und neue »Königsmacher« (die später ebenfalls aus dem Weg geräumten Kirow und Ordshonikidse) herangezogen hatte, trat er im »Jahr des großen Umbruchs« (1929) für alle sichtbar aus dem Dunkel hervor. Die Macht handhabend und auskostend, sonnte er sich von nun an in unterwürfigen Lobeshymnen, die ihn als »den Lenin von heute« und »den weisen Vater der Völker« glorifizierten.

Die Unterschätzung Stalins, der vielen nur als verschlagener Brachialpolitiker gilt, dauert bis heute an. Wenngleich es zutrifft, daß seine theoretischen »Leistungen« diesen Namen nicht verdienen, so verfügte er doch - außer dem phänomenalen Gedächtnis und dem immensen Fleiß - über ein Höchstmaß der für einen Erfolgspolitiker unverzichtbaren Eigenschaften: über ein ausgeprägtes Macht-

gespür, eine intuitive Menschenkenntnis, eine phantastische Verstellungsgabe und über die Fähigkeit, gegebenenfalls jahrelang bis zum Ausreifen eingefädelter Intrigen zu warten.

So war es ihm möglich, den Posten des Generalsekretärs zum Zusammenschweißen des Parteiapparates zu einer »verschworenen Bruderschaft« (diesen Ausdruck verwendete er in einer unveröffentlichten Aufzeichnung) zu nutzen, richtiger: zu einer von ihm kreierten und auf ihn eingeschworenen Nomenklatura. Als Geschäftsführer des ZK steuerte er bis zu einem gewissen Grade die Auswahl der zur Auseinandersetzung freigegebenen Fragen, überwachte die Ausführung der im engsten Kreis beschlossenen Maßnahmen und fungierte insbesondere als oberster Kaderchef der Partei. Hatte er schon als Volkskommissar begonnen, ihm ergebene Funktionäre, vor allem Gegner seines Intimfeindes Trotzki, in dem er den Prototyp des verhaßten Intellektuellen sah, in Schlüsselpositionen an der Peripherie und im zentralen Kontrollapparat zu lancieren, so eröffneten sich ihm jetzt weitaus größere Möglichkeiten. Mehr und mehr bestimmte er, wer in die Reihe der die ZK-Majoritäten bildenden Gebietssekretäre aufrückte, die ihrerseits die nachgeordneten Kader ernannten. Auf diese Weise und mit betont »volksnahen«, also simplifizierenden Reden, die von seiner Lobby zunehmend als Schlußpunkte geführter Diskussionen gedeutet wurden, verstand er es, Parteimehrheiten für eine sakrosankte »Generallinie« zu schaffen und Andersdenkende erst als Oppositionelle, dann als Kriminelle und schließlich als Agenten des Weltimperialismus abzustempeln.

Dabei waren es natürlich nicht Stalins Machtgier und Brutalität, nicht seine Hinterhältig- und Skrupellosigkeit oder sein pathologisches Mißtrauen, die ihn zu einer Figur von weltgeschichtlicher Bedeutung aufsteigen ließen. Doch befähigten ihn diese Eigenschaften, an objektiv vorhandene Ansätze einer Entwicklung anzuknüpfen, an deren Ende die uneingeschränkte Macht eines sich kommunistisch gebärdenden Alleinherrschers stehen sollte. Entstanden waren diese Ansätze im Überlebenskampf der von Feinden bedrängten und auf dem Ernennungswesen fußenden Sowjetmacht, die ihre Anhänger immer in neuen Kampagnen zu übermenschlichen Anstrengungen aufgerufen und zugleich das Anpassungsbedürfnis schweigender Mehrheiten ausgebeutet hatte, die vor keinerlei Eingriffen in das Wirtschaftsleben zurückgeschreckt und nicht nur die Gewalt, sondern auch den Terror als legitim anerkannt hatte, die also Menschen - ob schuldig oder nicht - nur ihrer Herkunft, ihres Status oder ihrer Denkweise wegen Verfolgungen aussetzte.

Diese Praktiken wurden unter der Ägide Stalins bis zu millionenfachen Verbrechen ausgeweitet, führten zur weltweiten Diskriminierung der sozialistischen Idee und damit zu ihrer denkbar schwersten historischen Niederlage.

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