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Warum keine Menschen züchten?

Dr. Helmut F. Kaplan (45)

  • Lesedauer: 3 Min.

Österreichischer Philosoph und Buchautor, Vorstandsmitglied von »Animal Peace«

In Berichten und Diskussionen über Möglichkeiten und Gefahren der Gentechnik werden immer wieder solche »Horrorszenarien« wie »Menschenzucht«, »Menschen vom Reißbrett«, »Visionen ä la Frankenstein« an die Wand gemalt. Warum »Horror«? Warum »Frankenstein«? Warum verläßt uns ausgerechnet jetzt, wo wir endlich können, was wir schon immer wollten, der Mut?

Die moralische Diskussion über das medizinisch Machbare gerät in eine immer stärkere irrationale Schieflage. Dafür zwei Indizien:

Wir haben an sich recht klare Vorstellungen darüber, was unter Gesundheit zu verstehen ist. Und wir sind uns auch völlig darin einig, daß Gesundheit einen hohen Wert darstellt. Um das Mindeste zu sagen: Viele Menschen messen der Gesundheit sogar den höchsten Wert überhaupt bei.

So ist es auch nur konsequent, daß wir bei Abweichungen von Gesundheit in Form von Krankheiten oder Behinderungen alles daran setzen, diese zu heilen oder sie zu beseitigen. In Fällen, wo dies aber medizinisch prinzipiell (noch) nicht möglich ist, geschieht mitunter psychologisch Merkwürdiges: Die betreffende Krankheit oder Behinderung mutiert urplötzlich zur unverwechselbaren Charaktereigenschaft! Und zwar erfolgt diese ebenso wunderbare wie verwunderliche Umwertung stets dann, wenn die Krankheit oder Behinderung vor dem Hintergrund von Pränataldiagnostik, Abtreibung oder Euthanasie diskutiert oder bewertet wird.

Um der gefürchteten Forderung nach einer wie immer ge-

meinten Beseitigung oder gar Verhinderung des kranken oder behinderten Lebens zuvorzukommen, wird aus der unerwünschten Abweichung schlagartig ein Identität stiftendes Merkmal. Das ist nicht weniger absurd, als ein gebrochenes Bein plötzlich zur interessanten Eigenschaft hochzustilisieren.

Warum um alles in der Welt können wir nicht bei Verstand und Moral bleiben - und sagen: Diese Krankheit oder Behinderung ist bedauerlich (was dadurch

bewiesen ist, daß sich niemand freiwillig in diesen Zustand versetzen lassen würde), aber sie darf und wird uns nie und nimmer daran hindern, dem Betroffenen jede nur erdenkliche Hilfe und Unterstützung zuteil werden zu lassen.

Ein zweites Indiz für die irrationale Verwirrung im Zusammenhang mit medizinisch (Un-)Möglichem ist, daß wir »Menschenzucht«, »Menschen vom Reißbrett« ebenso pathetisch wie hysterisch ablehnen. Das heißt aber nichts anderes, als daß wir genau das ablehnen, was unseren Gesundheits- und Normalitätsstandards am ehesten entspricht! Anders ausgedrückt: Wir beharren auf unseren Unvollkommenheiten.

In diesem Zusammenhang spielt wohl unser gleichermaßen infantile wie größenwahnsinnige Begriff von der Menschenwürde eine Rolle. Wir, die Krone der Schöpfung, sind eine derart großartige Erscheinung im Universum, daß selbst die eklatantesten

Abweichungen vom Idealbild unserer Einzigartigkeit keinen Abbruch tun!

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