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  • Politik
  • Vladimir Nabokov, der vor 20 Jahren starb, soll jetzt durch eine Biographie Rußland »zurückgegeben« werden

Das Heimweh des Kosmopoliten

  • Lesedauer: 5 Min.

Vladimir Nabokov in Aktion - als Lepidopteroloqe

Foto: Horst Tappe

Von Karlheinz Kasper

Sein außergewöhnlicher Status als Schriftsteller war Nabokov stets bewußt. Als er seine Memoiren »Erinnerung, sprich« 1967 in die endgültige englische Fassung brachte, schrieb er: »Diese Wieder-Anglisierung einer russischen Wieder-Durcharbeitung dessen, was ganz am Anfang eine englische Wiedergabe russischer Erinnerungen gewesen war, erwies sich als eine höllische Aufgabe, doch bezog ich einigen Trost aus dem Bewußtsein, daß eine solche mehrfache Metamorphose, wie sie Schmetterlingen geläufig ist, von einem Menschen noch nie versucht worden war.« Die Fähigkeit des Autors, alle sprachlichen Metamorphosen mit Gewinn für die künstlerische Qualität seiner Werke zu meistern, hat nicht wenig dazu beigetragen, daß er heute Weltruhm genießt.

1899 in einer traditionsreichen Petersburger Aristokratenfamilie geboren, am 2. Juli 1977 im Schweizer Montreux gestorben, gilt Nabokov bei den einen als russischer, bei den anderen als amerikanischer Schriftsteller. Die Forscher unterscheiden acht »russische« und acht »amerikanische« Romane des Autors, übersehen jedoch häufig, daß Nabokov Gedichte ausschließlich russisch geschrieben, die »amerikanischen« Romane selber in die Muttersprache übersetzt und die russischen Bücher ins Englische übertragen hat oder zumindest maßgeblich daran beteiligt war Obwohl er Französisch und Englisch seit der Schulzeit perfekt beherrschte, blieb er der »Sprache Awwakums, Puschkins, Tolstois« stets verbunden.

Nabokovs Lebensbahn verlief mit einer verblüffenden Zyklizität - zwanzig Jahre (Kindheit und Jugend) in Rußland, rund zwanzig Jahre (1919-1940) in Westeuropa: Cambridge, Berlin und Paris, rund

zwanzig Jahre (1940-1961) in den USA, die letzte Zeit unbehaust, im Hotel »Montreux Palace«. Jede Phase des reifen Lebens hatte ihre literarischen Höhepunkte. In Berlin entstanden Romane wie »Einladung zur Enthauptung« und »Die Gabe«, in Amerika »Lolita« und »Pnin«, in der Schweiz »Ada oder Das Verlangen«. Spätestens seit dem heute fast unverständlichen, skandalösen Erfolg von »Lolita« (der Roman durfte 1955 nur in Paris, nicht aber in den USA erscheinen) konnte Nabokov von der schriftstellerischen Arbeit ohne materielle Nöte leben. Er war zum erfolgreichsten Autor der ersten russischen Emigration und so berühmt geworden, daß die Leser in jedem neuen Werk nach den obligaten »Erkennungszeichen« suchten - Motiven aus dem Emigrantendasein, Bezugnahmen auf Schmetterlinge (der Verfasser war nicht nur vernarrt in Schmetterlinge, sondern galt in Fachkreisen als ein ernstzunehmender Lepidopterologe), Schach und Sport (Tennis, Fußball, Fechten, Radfahren) sowie den boshaften Seitenhieben auf Sigmund Freud und die Psychoanalyse. Nabokov war durch die Erfahrungen mit dem Leben in England, Deutschland, Frankreich, den USA und der Schweiz mit allen Fasern seines Denkens und Fühlens Kosmopolit, Weltbürger im ureigensten Sinn des Wortes, doch das quälende Heimweh nach Rußland ließ ihn nie ganz los.

Dort aber waren Nabokovs Werke bis zur Perestroika unbekannt. Erst seit 1986 wurden sie nachgedruckt, eine vierbändige Werkauswahl kam 1990, der Roman »Ada oder Das Verlangen« im vergangenen Jahr in Moskau heraus. Die Literaturwissenschaft wagte sich nur zögernd an den Autor heran. Bahnbrechend war Viktor Jerofejews Aufsatz »Der.russische Metaroman Vladimir Nabokovs« (1988), durch den das Schaffen des Schriftstellers in die Traditionslinien von Bely, Joyce, Proust und Kafka gestellt wurde. Die Nabokov-Forschung, ursprünglich von rus-

sischen Emigranten wie Wladislaw Chodassewitsch, Sinaida Schachowskaja, Gleb Struwe u. a. in Gang gebracht, blieb noch eine ganze Weile eine Domäne des Westens. Der Australier Andrew Field brachte 1966, 1977 und 1986 seine mit immer umfangreicherem Faktenmaterial versehenen Arbeiten über Nabokov heraus. Der Amerikaner Brian Boyd legte mit »Vladimir Nabokov The Russian Years« (1990) und »Vladimir Nabokov The American Years« (1991) zwei Monographien vor, die nach Ansicht der Fachleute eine profunde Recherche mit einer beispielhaften faktologischen Solididät und einer gründlichen Werkinterpretation vereinten. Die Studie von N. Afanassjew »Das Nabokov-Phänomen« (Moskau 1992) ließ erkennen, wie weit die russische Literaturwissenschaft noch von einem Verständnis der künstlerischen Spezifik des Autors entfernt war. Boris Nossiks Biographie, die zunächst 1995 in Moskau herauskam, weckt deshalb große Erwartungen.

Nossik, der heute in Paris lebt, war in Rußland als Rundfunkjournalist tätig und bekannt als Verfasser von Romanen, Theaterstücken, Drehbüchern und Reisebeschreibungen, Biograph Albert Schweitzers und Übersetzer englischsprachiger Autoren. Diese Erfahrung kam dem Verfasser zweifellos auch bei der Nabokov-Biographie zugute. Sie ist flüssig und leserfreuhdlich geschrieben, erfaßt in sieben Kapiteln den ganzen Nabokov - sein wechselvolles Leben, die Romane, Erzählungen, Theaterstücke, Literaturvorlesungen, Briefe und Interviews. Nossik folgt der Chronologie des Schriftstellerlebens und verbindet die biographische Darstellung mit der Interpretation aller wichtigen Texte. Dabei arbeitet er heraus,.daß Nabokov seine Aufgabe nicht darin gesehen hat, Wirklichkeit realistisch abzubilden, sondern Kunst für ihn ihren ästhetischen Wert erst dadurch gewann, daß sie sich mit schöner Selbst-

Verständlichkeit als »Erfindung« und »Mystifikation« begreift.

So informativ Nossiks Biographie für den Leser auch sein mag, für den Nabokov-Kenner läßt sie manche Frage offen. Nossik zitiert ausführlich aus den Büchern von Field und Boyd, hält sie für gut, aber für »unrussisch«. Sein Buch, argumentiert der Verfasser, soll eine Korrektur vornehmen. Nabokov sei Rußland gewaltsam weggenommen worden, zusammen mit der gesamten Emigrantenliteratur. Seine Biographie werde Rußland das Weggenommene, die Welt und die Gabe Nabokovs zurückgeben. Der Begriff der Gabe (russisch »dar«), der auch dem 1937/38 entstandenen Berlin- und

Rußlandroman »Die Gabe« den Titel gegeben hat, stellt das Schlüsselwort zu Nossiks Nabokov-Interpretation dar. Er gebraucht es zur Charakterisierung der außergewöhnlichen sprachlichen und literarischen Begabung des Schriftstellers, die - wie Chodassewitsch in einem Aufsatz schrieb - göttlicher Natur ist, den Schreibenden zu einem Besessenen macht und ihn zwingt, sich seinem Thema immer wieder ekstatisch hinzugeben.

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