Was ist denn bloß an der Weberwiese los, da wächst ein Haus ganz riesengroß...«, sang der Rundfunk Kinder-Chor. Das Lied pries den »ersten sozialistischen Neubau auf deutschem Boden«, mit dem »der entschlossene Aufbau der deutschen Hauptstadt« begann, wie es in einem der Grundsteinlegungs-Dokumente heißt. Von den ersten Entwürfen bis zur Fertigstellung des Wohnhochhauses 1952 war allerdings einiges los in ganz anderem Sinne. So hatte Hermann Henselmann, als Architekt vom neuen Bauen der 20er Jahre und vom Stil seines Vorbildes Le Corbusier geprägt, für dieses steinerne Symbol einer menschenfreundlichen Utopie einen Entwurf in der Architektursprache der internationalen Moderne vorgelegt. Doch infolge der Formalismus-Realismus-Debatte, in der auch die »Rückschrittlichkeit« des Bauhausstils diskutiert wurde, wurde er abgelehnt. Henselmann entwarf nun einen Bau in nationaler, insbesondere durch die Formensprache Schinkels beeinflussten Berliner Tradition - »zum Behagen der Bewohner, zum Wohlgefallen der Passanten«. »Immer«, sagte er später, »wollte ich für die Menschen bauen.« (Das Haus an der Weberwiese, mit dem der Beginn des nationalen Aufbauwerkes markiert wurde, rangierte bald als Prestigeobjekt in der deutschen Ost-West-Auseinandersetzung.)
Mit noch weiteren Hochhäusern, ebenfalls in der geforderten traditionalistischen Architektursprache, kam Hermann Henselmann zu Ehren: denen an Straußberger Platz und Frankfurter Tor an der Stalinallee, die heute das größte geschlossene Flächendenkmal in Europa ist. Später, nach nochmaligem Wandel der Architekturparadigmen, entwarf er u.a. das Haus des Lehrers am Berliner Alexanderplatz, lieferte den Ideenentwurf für den Fernsehturm als »Ausdruck der anbrechenden modernen Informationsgesellschaft« (Flierl) in Berlin - damals allerdings abgelehnt, weil eigentlich ein Regierungshochhaus gewünscht war. Zu den weiteren bekanntesten Entwürfen gehören die für das Uni-Hochhaus in Leipzig und den Zeiss-Turm in Jena.
Das Credo des am 3.2. 1905 in Roßla im Harz geborenen Holzbildhauersohns, der sich als »Sozialist des Herzens« verstand, war, die Welt mit Bauten zu verändern. Bereits als junger Architekt hatte er auf sich aufmerksam gemacht, unter anderem mit der noch heute als herausragendes Beispiel für moderne Architektur geltenden Villa Kenwin in Montreux am Genfer See (1932). Unter der Nazi-Herrschaft, zeitweise als »Kulturbolschewist« verfemt, wurde er aus der Reichskulturkammer ausgeschlossen. Über diese Zeit berichtete er unter anderem in seinem Erinnerungsbuch »Drei Reisen nach Berlin« (1981). Nach dem Krieg wurde Henselmann, den es mit seiner Familie nach Gotha verschlagen hatte, dort Kreisbaudirektor. Nachdem er von 1946 bis 1949 in Weimar an der Staatlichen Hochschule für Baukunst und Bildende Kunst als Professor gelehrt und als Direktor vorgestanden hatte, wechselte er nach Berlin. Und hier begann für Henselmann eine große Zeit fruchtbaren Wirkens. »Selbst fasziniert vom Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft, an die er als sozial engagierter Architekt glaubte, wollte er - gerade nach den sinnlosen Zerstörungen des Krieges - mit Architektur als baulich-räumlicher Form des Lebens faszinierende Bilder für den Aufbruch in eine neue, dem Frieden zugewandte gesellschaftliche Zukunft schaffen«, schreibt Architekturkritiker Bruno Flierl. Und Türme - das Weberwiesen-Hochhaus eingeschlossen - waren für Henselmann »Ausdruck von Standfestigkeit, Dauer und aufstrebender Kraft«.
Ein Bezug auf das Alte Testament liegt hier nahe: »Auf bauen wir uns eine Stadt und einen Turm mit einer Spitze bis zum Himmel und machen wir uns damit einen Namen.« Denn einer Aufsatzsammlung des im Wort brillanten Architekten selbst ist der Titel gegeben: »Vom Himmel an das Reißbrett ziehen«, und er verstand es - nicht nur im Sinne von gebaute Bildzeichen setzen -, dem Zukunftsweisenden der Gesellschaft »einen Namen« zu machen, auch sich selbst. So, wie er sich von aktuellen internationalen Tendenzen in der Architektur inspirieren ließ und Vorbilder wie Baugeschichtliches zu etwas ganz Eigenem transformierte, um aus dem mageren Alltäglichen des Bauens in der DDR den Menschen Interessantes, Herausragendes zu bieten und damit auch sozusagen DDR-Propaganda zu machen, so war er dabei durchaus interessiert daran, selbst der Herausragende zu sein. Was ihm, oftmals auch dank seiner Überzeugungskunst, gelang.
Henselmann, unbequem oder angepasst, verehrt oder beneidet, immer aber faszinierender Anreger, der auch in zahlreichen Schriften zu Architektur und Politik das Wort nahm, empfing nicht zuletzt sehr lebendige Anregung durch ein offenes Haus für Künstler und Wissenschaftler und wo er deutsch-deutsche Kontakte pflegen durfte selbst in Zeiten des Kalten Krieges. Nicht von ungefähr bildete sich die Legende, er sei der Architekt der Stalinallee und der einzige der DDR von internationaler Vergleichbarkeit.
Ab 1970 war der erste »Chefarchitekt von Berlin« (1953-1958), später Chefarchitekt im VEB Typenprojektierung, Institutsdirektor an der Deutschen Bauakademie, im Ruhestand. Auch das für ihn keine Ruhezeit. Lebendig und zu neuem Ansehen gekommen sind die Bauten, die er schuf. Wie das Motto, das ins Haus an der Weberwiese eingeschrieben wurde, nach wie vor aktuell ist: Brechts Verse »Friede in unserem Lande,/Friede in unserer Stadt,/Daß sie den gut behause,/ Der sie gebauet hat.«
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