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herausschreien!«

Frau braucht Mut, wenn sie Frauen liebt Von Annette Gilbert

  • Lesedauer: 5 Min.

»Versteckspiel« Anna (23)

Foto: Portnot

»Ich weiß es seit dem Kindergarten.« Chris (15, links) mit Schulfreundinnen

Foto: Gilbert

»Ich weiß es seit dem Kindergarten. Mit 12 habe ich mich zum ersten Mal in eine Frau verliebt. Dann habe ich getestet, wie die Umwelt reagiert, und mit 13 bin ich 'rausgekommen. Meine Mutter meinte nur, sie hätte sich das schon gedacht.«

Heute ist Chris fünfzehn und lebt offen lesbisch. Sie ist eine von immerhin 8,2 Millionen Homosexuellen in Deutschland. Bei Chris klingt alles so einfach und selbstverständlich. Aber trotz der gesellschaftlichen Veränderungen der letzten Jahre ist ein solch problemloser Umgang mit der Homosexualität immer noch die Ausnahme. Es sind gar nicht so sehr die Eltern, die das Leben schwer machen. Dem Herauskommen geht der oft sehr viel längere und schmerzvollere Weg der Selbstfindung voraus.

Jeder Schritt ist ein Kampf mit sich selbst: Bin ich nun lesbisch oder nicht? Das fängt bei der Informationssuche an. Da wird wochenlang mit sich gehadert, ehe man sich traut, eine Lesbenzeitschrift oder ein Buch zu kaufen. Anna (23), deren Coming out sechs Jahre zurückliegt, bekennt, daß ihr dazu stets der Mut fehlte: »Allein die Vorstellung, daß mich Leute beobachten könnten und alle sofort Bescheid wüßten ... Einmal bin ich zufällig auf den VHS-Kurs >Wenn Frauen Frauen lieben< gestoßen. Es war grausam. Ich habe mit mir gekämpft, ob ich hingehe. Ich war eigentlich noch gar nicht richtig lesbisch, hatte sogar seit eineinhalb Jahren einen festen Freund. Aber

es reizte mich, dort ein paar richtige, lebendige Lesben - vielleicht sogar meine Traumfrau - kennenzulernen. Bei der Anmeldung kam ich mir vor, als ob ich irgend etwas angestellt hätte. Naja, der Kurs ist dann ausgefallen wegen zu weniger Teilnehmerinnen und gefallen hat mir auch keine. Im Gegenteil - die haben mich mit ihren kurzen Frisuren und harten Gesichtern ganz schön abgeschreckt. Ich wollte nicht so werden wie sie. In-

zwischen sehe ich selbst so aus«, sagt Anna und lächelt kokett. Verzweifelt hat sie sich in ihrer Hetero-Beziehung zu beweisen versucht, wie »normal« sie sei. »Ich hatte Sehnsucht nach Liebe. Und ich hatte Angst vor der Liebe, weil ich nicht so liebte, wie von mir erwartet wurde. Ich wollte mich in einen Jungen verlieben, damit diese ganzen Gedanken aus meinem Kopf verschwänden. Nicht an Frauen denken, nicht von Frauen reden, nicht mit Frauen schlafen und keine Frauen lieben - einfach nur eine Frau sein. Versteckspiel und Wegrennen haben mein Coming out verzögert, aber nicht verhindert.«

Auch hinter Chris' »Bilderbuch-Co-“ming-out« verbergen sich Leidenschaft, Verrat und Kampf: »Ich habe einer Freundin am Telefon meine Liebe gestanden. Am nächsten Tag wußte es die ganze Schule. Manche wollten mit mir nichts mehr zu tun haben. Damals habe

ich manche Freundin verloren: Sie fürchteten alle, ich würde nur noch das eine wollen. Bei einem Jungen denken sie ja auch nicht gleich in diese Richtung.«

Die zweite wichtige Stufe beim »äußeren« Coming out sind dann oft die Eltern. Chris hatte das Glück, daß ihre lesbische Tante bereits für Akzeptanz gesorgt hatte. Bei Anna war das schwieriger- »Mein Vater war der letzte, der davon erfahren hat. Irgendwann habe ich an meine Zimmertür geschrieben: >Papa, ich bin übrigens lesbisch. Und ich habe keine Lust, ein Geheimnis daraus zu machen.< Am Morgen danach hat er es abgewischt und mich nie wieder darauf angesprochen. Er hatte mir zu verstehen gegeben, daß er Lesben eklig findet. Das hat sich auch nicht dadurch geändert, daß seine eigene Tochter lesbisch ist.«

Jede Frau muß selbst wissen, ob sie stark genug ist, das alles ertragen zu können. Chris rät, lieber noch ein wenig zu warten oder in einer Coming-out-Gruppe Kraft zu tanken. Auch Martina Frenznick, Sozialpädagogin, die seit neun Jahren in der Berliner Lesbenberatung arbeitet, warnt davor, Mädchen zum Coming out zu treiben: »Es ist wichtig, daß jede es

selbst weiß und akzeptiert. Sie muß kein Schild mit sich herumtragen, sondern eher schauen, was ihr guttut. Den Zeitpunkt bestimmt sie selbst.«

Die ewig gleichen Kämpfe muß jede Frau mit sich allein austragen. »Die Lesbenberatung bietet dabei Hilfe und einen Freiraum, wo sie sich wohlfühlen und unter sich sein können«, sagt Martina. Hier lassen sich auch - viel unkomplizierter als über die weitverbreiteten Kontaktanzeigen oder Fitneßcenterbesuche - erste Bekanntschaften und vielleicht die erste Traumfrau finden und gemeinsame Szeneausflüge planen.

Auch nach dem Coming out bleibt es schwierig. 70 Prozent aller Lesben berichten von verbalen und 16 von tätlichen Angriffen. Anna meint. »Das reicht von >dreckige Lesbe!< über >ihr braucht doch noch einen Dritten !< bis hin zu anspukken. Ich habe keine besondere Angst, aber verhalte mich vorsichtig. Manchmal reicht, daß ich Hand in Hand mit meiner Freundin durch die Straße gehe, um blöd angemacht zu werden.«

Chris hält sich inzwischen für abgehärtet. Eine Freundin bewundert sie deswegen: »Es ist toll, wie die Lesben damit klarkommen, von anderen so oft fertiggemacht zu werden.« Nach Martinas Meinung haben es Junglesben immer noch schwerer als Schwule: »Einfach, weil Frauen eine ganz andere Position in der Gesellschaft haben als Männer Schwulsein wurde erst verfolgt, ist inzwischen akzeptiert und findet seine gesellschaftliche Anerkennung in Werbung und >Lindenstraße<. Lesbisch-Sein hingegen wurde schon immer entweder verschwiegen oder verniedlicht.«

Es bleibe eben noch viel zu tun, um in Ruhe leben zu können, meint Chris zum Schluß gewohnt kämpferisch. »Ich sehe gar nicht ein, mich verstecken zu müssen. Ich will es herausschreien. Es soll niemanden mehr schockieren, sondern zur Gewohnheit werden.«

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